
Achtsamkeit in der Natur
Möchtest du lernen mit Hilfe der Natur ruhiger und gelassener zu werden? Hier findest du Informationen und Tipps zu naturbasierter Achtsamkeit.
Gesang in der Stille
Vögel können ganz schön laut sein, denke ich, während in der Nähe ein Specht hämmert. Ein Rotkehlchen fliegt hektisch von Ast zu Ast, als andere Vögel in das morgendliche Konzert auf dem sonst mucksmäuschenstillen Waldfriedhof einstimmen.
Mit einem Mal sind nur noch Vogelstimmen um mich herum. Es trällert, pfeift, singt, ruft, zwitschert in allen Tonlagen in einer Tour. Ein ohrenbetäubender Lärm, zumindest fühlt es sich so an.
Wenig später verblassen die Vogelstimmen schon wieder. Ich nehme den Wind in den Wipfeln der Bäume wahr, der einzelne Blätter und Äste sanft hin und her bewegt. Ein trockenes Blatt fällt im Zeitlupentempo zu Boden.
Mit meinen Augen verfolge ich das Blatt, bis es schließlich sanft auf dem Boden landet. Meine Aufmerksamkeit ist voll und ganz bei dem Blatt. Im Hier und Jetzt. Und ich genieße den Moment, bevor er zur Erinnerung wird.
Ich bin dann mal präsent
Achtsam sein bedeutet ganz im Hier und Jetzt zu sein. Im gegenwärtigen Moment, ohne in die Vergangenheit oder die Zukunft abzuschweifen. Ich nehme meine Körperempfindungen, Gedanken, Gefühle und alles, was sich sonst noch zeigt wahr, ohne sie zu bewerten oder an ihnen festzuhalten. Das kann schwierig sein. Ist aber der einzige Weg, um das Leben so zu erleben, wie es sich von Augenblick zu Augenblick zeigt.
Zurück in die Zukunft
Haben wir ein Trauma erlebt, stecken wir oft in schwierigen Gefühlen und Erfahrungen aus der Vergangenheit fest, die sich als Angst, Schlafstörungen oder auch Depressionen in der Gegenwart zeigen. Aber auch über die Zukunft machen wir uns Sorgen, da wir das, was wir erlebt haben aus der Vergangenheit in die Zukunft übertragen.
Trauma trifft Achstsamkeit
Achtsamkeit kann traumatisierte Menschen bei der Selbstregulation unterstützen, indem Sie den Fokus auf die Wahrnehmung dessen lenkt, was gerade ist. Entweder in unserer äußeren Umgebung oder in unserem Inneren. Das kann zum Beispiel der stabile Stuhl sein, auf dem wir gerade sitzen, der uns hilft uns sicher und geerdet zu fühlen, oder das Seufzen, das uns zeigt, dass wir dabei sind uns körperlich zu entspannen.
Wichtig ist, sich langsam an das Thema Achtsamkeit heranzutasten und eigene Trigger im Blick zu haben, da diese zu einer Verschlimmerung von vorhandenen Symptomen wie Übererregung oder Dissoziation führen können. Wir sind alle so individuell wie die Erfahrungen, die wir gemacht haben. Und jeder geht anders mit seinen Erfahrungen um. Eine One-fits-all-Lösung gibt es nicht.
Was die Wissenschaft weiß
Einer Studie zufolge können Achtsamkeitsaktivitäten bei traumatisierten Erwachsenen zu einer Verringerung von Depressionen, Ängsten und traumabedingten Symptomen sowie zu einer Verbesserung von Stimmung und Lebensqualität beitragen.
Kanadischen Wissenschaftlern zur Folge können achtsamkeitsbasierte Therapien wirksam zur Verringerung der Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) beitragen. Vorläufige Belege zeigen, dass es bestimmte Schlüsselmechanismen für die Wirksamkeit der Achtsamkeit geben könnte.
So kam es durch die Anwendung von achtsamkeitsbasierter Therapie zu
- weniger Vermeidungsverhalten,
- einem besseren Umgang mit Scham und
- weniger Selbstbeschuldigungen.
Doch Achtsamkeit kann noch mehr: Sie kann unser Stresslevel langfristig um bis zu 25 % senken. Das haben Haaranalysen des Hormons Cortison in einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts in Leipzig ergeben. Schon nach etwa zwei Monaten Achtsamkeit, lassen sich erste positive Effekt feststellen.
Von diesem Effekt können auch Menschen mit Trauma profitieren. Denn durch ein Trauma entsteht Stress. Kann dieser Stress nicht verarbeitet werden, wird er im Körper gespeichert. Ein erhöhter Stresslevel ist die Folge. Achtsamkeit kann helfen den Stress zu reduzieren.
In den kleinsten Dingen zeigt die Natur die allergrössten Wunder.
– Carl von Linné
Naturbasierte Achtsamkeit
Naturbasierte Achtsamkeit bezieht sich auf Aktivitäten, die Natur mit Achtsamkeit oder anderen Techniken wie Mediation verbinden.
Wie kannst du davon profitieren?
Laut eines Artikels des Online Journal of Complementary & Alternative Medicine kann naturbasierte Achtsamkeit dazu dienen:
- eine achtsamere Lebensweise zu kultivieren
- die eigene Meditationspraxis zu vertiefen
- ein umweltfreundlicheres Verhalten zu entwickeln
- besser mit Depressionen oder Stress umzugehen lernen
- unser allgemeines Wohlbefinden zu stärken
Wie sieht naturbasierte Achtsamkeit aus?
Einige Beispiele für naturbasierte Achtsamkeit sind:
- Atemmeditationen
- Beobachten von Wolken
- Hörübungen
- Beobachten von Landschaften oder Tieren
- Gehmeditationen
Wichtig zu wissen
Naturbasierte Achtsamkeit sieht für jeden anders aus: Wer gut darin ist, still zu sitzen, findet vielleicht heraus, dass eine Naturmeditation genau das Richtige ist. Für andere kann es leichter sein, bei einem Spaziergang auf Geräusche, Gerüche und Gegenstände zu achten.
Achtsame Augenblicke
Durch den Kontakt mit der Natur wird es leichter eine Haltung der Achtsamkeit einzunehmen, denn der Aufenthalt in der Natur, bietet uns eine Vielzahl von Sinnesreizen, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten und im Augenblick leben können.
Sich auf den Anblick und die Geräusche der Natur einzustimmen, lenkt die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment und hilft uns, Stress und Sorgen loszulassen, indem wir von anderen externen Stressfaktoren abgelenkt werden. In der Natur wird man in gewisser Weise in den gegenwärtigen Moment „gezwungen“.
Bitte warten, die Verbindung zur Natur wird wieder hergestellt
Studien haben gezeigt, dass Achtsamkeit in der Natur unser Gefühl der Naturverbundenheit verbessern kann. Gleichzeitig hebt naturbasierte Achtsamkeit unsere Stimmung. Und sie scheint den positiven Effekt zu verstärken, den bereits ein kurzer Aufenthalt in Natur mit sich bringt.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ich vor einem Spaziergang oder einer Wanderung oft sehr angespannt bin. Nicht nur körperlich, sondern auch mental. Ich stecke gedanklich fest, habe das Gefühl auf der Stelle zu treten.
Nachdem ich einige Zeit draußen unterwegs bin, ändert sich mein Zustand in der Regel: Ich habe plötzlich neue Ideen, fange an mich zu entspannen und kehre körperlich und mental gestärkt zurück nach Hause.
Was ich gerade beschrieben habe, deckt sich auch mit dem, was Wissenschaftler herausgefunden haben: Es scheint einen signifikanten positiven Zusammenhang zwischen Naturverbundenheit und psychischem Wohlbefinden zu geben.
Lieber achtsam draußen als mühsam drinnen
Eine Metaanalyse von Studienergebnissen ergab, dass naturbasierte Achtsamkeit einen positiven Effekt auf unseren körperlichen und psychischen Zustand hat. Ein Grund mehr, Zeit draußen zu verbringen und sich die Natur zu Nutze zu machen, wenn es um die Heilung von Trauma geht.
Dieselbe Analyse fand heraus, dass die naturbasierte Achtsamkeit gegenüber der Achtsamkeit, die in nicht-natürlichen Umgebungen praktiziert wird, leicht überlegen ist. Könnte daran liegen, dass allein der Aufenthalt in der Natur uns positiv beeinflusst. Wir profitieren also doppelt, wenn wir uns draußen in Achtsamkeit üben.
Achtsamkeit in der Natur zu praktizieren, hat einen weiteren positiven Effekt, denn es gibt möglicherweise eine wechselseitige Beziehung zwischen Naturverbundenheit und Achtsamkeit.
Achtsamkeit, die aus nicht wertendem Gewahrsein besteht, kann es uns ermöglichen, uns mehr mit der Natur verbunden zu fühlen, und die Verbundenheit mit der Natur kann dazu beitragen, unsere Achtsamkeit zu fördern.
Belegt wird diese Verbindung durch eine Metaanalyse von Studienergebnissen, die einen signifikanten Zusammenhang zwischen Naturverbundenheit und Achtsamkeit fand.

Naturbasierte Achtsamkeit im Alltag
Unser Alltag eignet sich optimal, um naturbasierte Achtsamkeit zu üben. Sei es im Park um die Ecke, auf dem Weg zum Einkaufen oder bei einem Spaziergang im Wald. Alles, was wir dafür brauchen, ist in der Regel vorhanden, wir müssen nur unseren Fokus verändern, und uns der Natur um uns herum bewusstwerden und ihr zuwenden.
Inspirationen für den Alltag
- Vogelstimmen hören und zuordnen
- Wind oder Sturm in Bäumen und Sträuchern wahrnehmen
- Form und Farbe von Wolken beobachten
- Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang beobachten
- Insekten wie Ameisen, Bienen, Käfer oder Fliegen beobachten
- Frisch gemähtes Gras oder Heu riechen
- Fließendes Wasser hören (in einem Fluss oder Bach)
- Reifegrad von Obst und Gemüse verfolgen (Frühling, Sommer)
- Regen in seiner wechselnden Intensität wahrnehmen
- Baumrinde oder Moos mit der Hand anfassen
- Temperaturveränderungen wahrnehmen (Tageszeiten, Jahreszeiten)
- Boden unten den Füßen spüren: Feldweg, Erde, Schotter, Asphalt
- Auf einem Barfusspfad laufen
Was beim Üben hilfreich sein kann
Folgende Punkte sind meiner eigenen Erfahrung nach hilfreich:
1. Sich langsam an eine bewusstere Wahrnehmung herantasten
Wenn wir jahrelang im Stressmodus draußen unterwegs waren, fehlt uns am Anfang vielleicht ein Gespür für die Feinheiten der Natur. Da kann es helfen sich öfter bewusst umzuschauen und das zu benennen, was wir in diesem Moment sehen, hören oder riechen. So bekommen wir mit der Zeit wieder einen anderen Blick auf die Dinge und trainieren unsere Achtsamkeit.
2. Sich Zeit nehmen und in Geduld üben
Wenn du gerade erst angefangen hast, achtsamer in und mit der Natur zu sein, kann es eine ganze Weile dauern bis du eine Veränderung in deiner Wahrnehmung spürst. Es kann auch sein, dass sich gute und schlechte Phasen abwechseln, Gefühle hochkommen, es einfach nicht so recht klappen will mit der Achtsamkeit.
In solchen Momenten braucht es Geduld, denn gerade wenn sich eine große Menge Stress in uns angestaut hat, kann es länger dauern, bis wir spüren wie dieser nachlässt.
3. Sich selbst besser kennen lernen
„Du bist nicht auf der Flucht,“ sage ich mir manchmal, wenn ich draußen unterwegs bin. Um mich zu erinnern langsamer zu laufen. Es geht ja nicht ums Ankommen, sondern ums Wahrnehmen. Oft spüre ich erst unterwegs wie angespannt ich bin. Inzwischen fällt es mir leichter solche Dinge wahrzunehmen und meinen körperlichen und psychischen Zustand besser einzuschätzen.
Um diese Form der Wahrnehmung zu trainieren, kann es helfen, dich auf deine Füße, auf deinen Atem, auf deine Muskeln oder auch auf deine Gedanken zu konzentrieren und zu beobachten wie sich deine Wahrnehmung von Moment zu Moment verändert.
4. Seine eigenen Bedürfnisse und Grenzen achten
Ich war einmal morgens um 6 Uhr im Wald. Um die Gunst der frühen Stunde nutzen. Doch ich spürte, wie ich zunehmend ängstlicher wurde, es war mir einfach unheimlich so früh allein im Wald. Ich beschloss früh morgens nur noch Wege zu wählen, auf denen ich mich sicher fühle.
Natürlich ist Sicherheit immer subjektiv. Aber nur wenn wir uns wohlfühlen, können wir uns achtsam der Wahrnehmung des Moments widmen. Und das ist ja der Grundgedanke der naturbasierten Achtsamkeit.
5. Sich nicht zu viel vornehmen, denn das führt schnell zu Frust
Es gibt Tage, da sind wir schlecht drauf, fühlen uns energielos, haben viel um die Ohren. Uns es fehlt die Zeit, die Muße oder beides für einen längeren Aufenthalt in der Natur. Das sollten wir akzeptieren.
Wichtig ist, regelmäßig zu üben. Und das geht auch an schlechten Tagen. Ein paar Minuten reichen: Um vom Balkon in den Himmel zu blicken, vom Fenster aus die Blätter im Wind schaukeln zu sehen oder sich der schönen Farbe der eigenen Zimmerpflanze auf dem Fensterbrett bewusstzuwerden.
Neugierig auf mehr?
Erfahre jetzt mehr über den Zusammenhang zwischen Trauma und Achtsamkeit und die Prinzipien traumasensitiver Achtsamkeit. Ein wichtiger Ansatz für alle, die von Trauma betroffen sind oder die mit Menschen arbeiten.