
Hochsensibilität und Bindungstrauma
Erfahre mehr über den Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und Bindungstrauma und welche Auswirkungen es haben kann, wenn du hochsensibel und gleichzeitig von einem frühen Trauma betroffen bist.
Hochsensibel und traumatisiert – anders, aber nicht falsch
Rückblickend betrachtet war die Entdeckung der Hochsensibilität ein erster entscheidender Wendepunkt in meinem Leben, lange bevor ich überhaupt wusste was ein Bindungstrauma ist. Alles schien plötzlich Sinn zu ergeben, ich fühle mich endlich verstanden, denn jemand schien auf magische Weise zu wissen, wie ich die Welt erlebe: Als zu laut, zu bunt und zu anstrengend.
Wirklich umgehen mit dem Wissen konnte ich damals nicht. Denn ich war viel zu sehr gefangen in meinen Denk- und Verhaltensmustern, abgetrennt von meinen wirklichen Bedürfnissen, fokussiert auf ein Außen, in das ich mit meinen feinen Antennen und meiner sensiblen Natur einfach nicht reinzupassen schien.
Entscheidende (leider späte) Erkenntnis: Immer schon zweifach anders
Vermutlich auch, weil ich nie gelernt hatte wie sich Verbundenheit anfühlt. Was dazu führte, dass ich stets das Gefühl in mir trug, von Grund auf falsch zu sein. Heute weiß ich, wieso. Denn das Gefühl spiegelte eine Folge meines Bindungstraumas wider, die mich damit gleich in zweifacher Hinsicht anders machte – hochsensibel und traumatisiert.
Heute bin ich sehr sicher, dass meine von Geburt an vorhanden Empfindsamkeit in Bezug auf Reize, Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen sich immer schon wechselseitig mit meinen traumatischen Bindungserfahrungen beeinflusst hat.
Sowohl Hochsensibilität als auch ein frühes Trauma sind eng verknüpft mit unserem vegetativen Nervensystem. Es gibt also hinsichtlich der damit verbundenen Eigenschaften und Auswirkungen einiges an Überschneidungen, aber ebenso auch große Unterschiede, um die es hier geht.
Folgende Inhalte zum Thema Hochsensibilität und Bindungstrauma findest du auf dieser Seite:
- Hochsensibel und traumatisiert – anders, aber nicht falsch
- Was ist Hochsensibilität?
- Was sind die Merkmale von Hochsensibilität?
- Welche Herausforderungen gibt es für hochsensible Menschen?
- Was ist ein Bindungstrauma?
- Wie äußert sich ein Bindungstrauma?
- Welche Folgen kann ein Bindungstrauma haben?
- Welche Herausforderungen gibt es für Menschen mit Bindungstrauma?
- Was ist der Unterschied zwischen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (KPTBS) und einer „klassischen“ posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)?
- Ist Hochsensibilität eine Traumafolge?
- Hochsensibilität und Bindungstrauma – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
- Was ist der Unterschied zwischen Hochsensibilität und Bindungstrauma?
- Bindungstrauma bei hochsensiblen Menschen
- Was brauchen hochsensible Menschen mit einem Bindungstrauma?
Was ist Hochsensibilität?
Laut AOK Sachsen-Anhalt beschreibt das Adjektiv „hochsensibel“ ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal, bei dem Betroffene ein überdurchschnittlich hohes Maß an Empfindsamkeit und Sensibilität für Sinnesreize sowie emotionale Reize aufweisen. Dadurch nehmen sie im Alltag mehr Reize als „normal“ sensible Menschen auf.
Hochsensible nehmen ihre Umgebung intensiver wahr und verarbeiten Informationen sehr tief. Sie nehmen subtile Nuancen wahr, können Stimmungen anderer Menschen intuitiv erfassen und sind schnell von starken Reizen wie Geräuschen, Gerüchen oder visuellen Eindrücken vereinnahmt.
Grundsätzlich zeigt sich Hochsensibilität also in sechs Eigenschaften:
- Intensive Wahrnehmung
- Tiefe Reflexion
- Hohes Empathievermögen
- Intensives Erleben von Emotionen
- Leichte Überreizbarkeit
- Starkes Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug
Diese Eigenschaften können sowohl Herausforderungen als auch Vorteile für Betroffene mit sich bringen. Hochsensible Menschen haben oft ein reiches Innenleben und eine tiefe Verbindung zu anderen, benötigen aber auch passende Strategien, um mit ihrer Sensibilität umzugehen.
Hochsensibilität kann also Fluch und Segen gleichzeitig sein.
Was sind die Merkmale von Hochsensibilität?
Da Hochsensibilität sich durch eine gesteigerte Wahrnehmung von Reizen, wie z.B.
- starkes Empfinden von Geräuschen, Gerüchen, grellem Licht oder Texturen,
- feine Wahrnehmung für Details und Nuancen und
- intensive Wahrnehmung nonverbaler Kommunikation
und eine intensive Verarbeitung von Emotionen äußert, können Betroffene sich leicht überwältigt fühlen und brauchen regelmäßig Ruhepausen und geeignete Rückzugsorte.
Das kann dann dazu führen, dass sich bei zu viel sozialer Interaktion, in lauten Umgebungen oder in hektischen Situationen schnell eine große Erschöpfung einstellt, die von körperlichen Symptomen wie Kopf- oder Bauchscherzen und Übelkeit begleitet sein kann.
Aufgrund ihrer Neigung zur Reizüberflutung, ihren Bedürfnis nach regelmäßigen Pausen und dringend benötigten Rückzugsmöglichkeiten, brauchen Hochsensible einen Alltag, der ihren speziellen Bedürfnissen gerecht wird.
Weitere Eigenschaften von hochsensiblen Menschen
Neben der bereits erwähnten gesteigerten Reizwahrnehmung und Verarbeitung von Informationen können sich hochsensible Menschen laut Barbara Schmieder auch durch die folgenden Merkmale auszeichnen:
- lebhafte Vorstellungskraft
- Streben nach Vollkommenheit
- erhöhte körperliche Empfindlichkeit, z.B. bezüglich von Schmerzen oder Berührungen
- subtile Wahrnehmung der inneren eigenen Welt
- Lernfähigkeit bis ins hohe Alter
- gute Fähigkeiten beim Zuhören
- ausgeprägte Intuition (Bauchgefühl)
- enorme Gewissenhaftigkeit
- kreative Fähigkeiten
- ausgeprägter Ethik- und Gerechtigkeitssinn
- Reflexion der eigenen Gedanken („Nachdenken über das Denken“)
- verstärkte Reaktion auf Substanzen wie Medikamente und Alkohol
Welche Herausforderungen gibt es für hochsensible Menschen?
Aus eigener Erfahrung weiß ich, was es bedeutet hochsensibel in einer lauten Welt zu leben, die nach dem Motto „Höher, schneller, weiter“ zu funktionieren scheint.
Die größten Herausforderungen für hochsensible Menschen sind deshalb:
- Reizüberflutung
- Emotionale Intensität
- Zwischenmenschliche Beziehungen
- Schnelle Erschöpfbarkeit
- Hohe Ansprüche an sich selbst und andere
Insbesondere beim Thema Emotionen und Beziehungen gibt es aus meiner Sicht eindeutig Überschneidungen mit den Auswirkungen eines Bindungstraumas, dazu später mehr.
Die Auflistung erhebt übrigens keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es gibt sicher eine Reihe weiterer Herausforderungen, die hier einfach nicht aufgeführt sind.
Was ist ein Bindungstrauma?
Ein Bindungstrauma stellt eine Belastung während der ersten Lebensjahre dar, bei der die Beziehung zu unserer Bezugsperson eine wichtige Rolle spielt. Durch die Forschung ist heute klar, wie wichtig gute Rahmenbedingungen für unsere Entwicklung schon im Mutterleib und insbesondere in den ersten drei Lebensjahren sind.
Im Gegensatz zu anderen Säugetieren ist der Mensch bei der Geburt völlig hilflos und auf dieVersorgung durch eine Bezugsperson angewiesen. Dabei geht es neben der körperlichen Fürsorge in besonderem Maße auch um die emotionale Einstimmung auf die Bedürfnisse des Babys, das erst im Kontakt mit der Bezugsperson überhaupt lernt, sich selbst zu regulieren und soziale Interaktionsfähigkeiten zu erwerben.
Gesehen, gefühlt, gehört werden – unsere elementaren Bedürfnisse
Indem die Bezugsperson sich auf die Bedürfnisse einstimmt, sei es über Blickkontakt, Körperkontakt oder die Stimme, findet im Idealfall ein Lernprozess beim Kind statt, das durch Nachahmung lernt sein Nervensystem zu regulieren und sozial zu interagieren.
Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von Co-Regulation. Auch Spiegelneuronen, bestimmte Gehirnzellen, die dafür zuständig sind Gefühle beim Gegenüber wahrzunehmen, spielen dabei eine wichtige Rolle.
Kommt es in diese Zeit zu traumatischen Erfahrungen, wie z.B. einer Trennung von der Bezugsperson oder emotionale Vernachlässigung, kann dies tiefgreifende Folgen für die Entwicklung des Kindes haben, die sich unter Umständen erst Jahre oder Jahrzehnte später zeigen.
Da sich ein Bindungstrauma in der Regel aufgrund wiederholter und langandauernder Erfahrungen und Erlebnisse entwickelt, sprechen Experten hier auch von einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (KPTBS, siehe auch Was ist der Unterschied zwischen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (KTBS) und einer „klassischen“ posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)?).
Wie äußert sich ein Bindungstrauma?
Häufig bleibt ein frühes Trauma lange unerkannt. Denn um sich unter widrigen Umständen trotzdem entwickeln und heranwachen zu können, entstehen Überlebensstrategien, die sicherstellen, dass wir im Alltag klarkommen, unabhängig davon welche Verletzungen unsere Psyche davongetragen hat.
Oft treten die Defizite daher erst Jahre oder Jahrzehnte später in Form von unterschiedlichsten Störungen auf, wie z.B. depressiven Verstimmungen, Ängsten oder Anpassungsschwierigkeiten.
Ein Rückschluss auf die darunter liegenden Ursachen war lange häufig unmöglich, weil das Verständnis für die Zusammenhänge früher Bindungserfahrungen und die resultierende Probleme schlichtweg fehlte.
Ein Bindungstrauma äußert sich u.a. über folgende Symptome:
- Störungen der Emotionsregulation
- Negative Selbstwahrnehmung
- Beziehungsschwierigkeiten
- Veränderte Lebenseinstellung
- Somatisierung
Ein ausführliche Auflistung weiterer Folgen und Symptome findest du hier auf der Seite Bindungstrauma und Entwicklungstrauma. Dort erfährst du auch, wie sich ein Bindungstrauma auf Beziehungen auswirken kann.
Welche Folgen kann ein Bindungstrauma haben?
Ein Bindungstrauma kann zu psychischen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten führen. Betroffene haben oft Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen und mit herausfordernden Situationen umzugehen.
Zu den psychischen Folgen gehören u.a.
- ängstlicher, vermeidender oder chaotischer (disorganisierter) Bindungsstil
- Depressionen und Ängste bis hin zu Angststörungen
- Persönlichkeitsstörungen
- Erschöpfung und Müdigkeit
- Schlafstörungen
- Konzentrationsstörungen
- Panikattacken
- Innere Unruhe
- Körperliche Beschwerden ohne medizinische Ursache (Somatisierung)
- Selbstzweifel und Selbstabwertung
- Mangelndes Selbstwertgefühl
Aufgrund der Überschneidung mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, werden diese häufig diagnostiziert, ohne zu erkennen, dass traumatische Erlebnisse die eigentlichen Auslöser hinter den Beschwerden sind!
Zusätzlich dazu können auch alle Symptome einer „klassischen“ posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auftreten, zu denen die folgenden Symptome gehören:
- Wiedererleben: Intrusionen, (emotionale) Flashbacks, Alpträume
- Vermeidung: Erinnerungen, emotionale Taubheit
- Negative Gedanken und Gefühle: Schuldgefühle, Interessensverlust, negative Überzeugungen
- Vegetative Übererregung: Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsprobleme, Schreckhaftigkeit, Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit)
Zusätzliche Symptome können sein:
- Körperliche (vegetative) Symptome: Herzrasen, Zittern, Atemnot, Schwitzen, Kälte, Übelkeit
- Soziale Symptome: Rückzug aus Kontakten, Agressionen und Wutausbrüche, Sucht
- Psychische Symptome: Depressionen, Angst, Suizidgedanken
Welche Herausforderungen gibt es für Menschen mit Bindungstrauma?
Ein frühes Trauma oder Bindungstrauma kann zu vielfältigen Herausforderungen führen, darunter:
- Beziehungsprobleme
- Angst vor Ablehnung
- Starke Verlustängste
- Schlechtes Selbstwertgefühl
- Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen
- Probleme Grenzen zu setzen
- Konfliktvermeidung oder Entwicklung destruktiver Muster
- Rückzug aus dem sozialen Leben
- Unbewusste Beziehungsmuster
Zusätzlich dazu können auch unterschiedliche traumaspezifische Symptome auftreten, wie z.B. Dissoziation, Flashbacks, Alpträume, Schlaf- und Konzentrationsprobleme etc., deren Bewältigung die konsequente Arbeit an den eigenen Themen erforderlich macht sowie die Inanspruchnahme von passender therapeutischer Hilfe.
Was ist der Unterschied zwischen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (KPTBS) und einer „klassischen“ posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)?
Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) ist eine Traumafolgestörung, die sich von der „klassischen“ posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) durch wiederholte oder anhaltende traumatisierende Ereignisse unterscheidet.
Sie ist gekennzeichnet durch ausgeprägte Beeinträchtigungen in Denken, Fühlen, Sozialisation und Beziehungsgestaltung. Die KPTBS ist nicht durch ein einzelnes Ereignis (Schocktrauma, z.B. Unfall oder Überfall) verursacht, sondern durch ein breites Spektrum an Beeinträchtigungen.
Diese Beeinträchtigungen treten wiederholt auf und bestehen meist über einen längeren Zeitraum.
Die Bezeichnung „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ wurde von der Psychiaterin und Professorin Judith Lewis Herman („Die Narben der Gewalt – Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden„) geprägt, wird aber zurzeit noch nicht als Diagnose im Rahmen der Behandlung von Patienten genutzt, was auch erklärt, warum Betroffene es schwer haben eine zutreffende Diagnose und damit Behandlung zu bekommen.
Ist Hochsensibilität eine Traumafolge?
Obwohl dieser Zusammenhang oft hergestellt wird, ist er wissenschaftlich widerlegt. Denn bei Hochsensibilität handelt es sich um eine angeborene Eigenschaft, die nicht erst im Laufe des Lebens durch Ereignisse entsteht. Anders als bei einem Bindungstrauma, bei dem es in sehr frühen Lebensphasen zu Störungen bei der Versorgung durch die Bezugsperson kommt.
Mary Kate Roohan, Doctor of Psychology, schreibt in einem Artikel für Psychology Today, dass hochsensible Kinder häufig missverstanden werden. Ihre speziellen Bedürfnisse werden nicht selten grob übergangen, da die Menschen in ihrem Umfeld selbst nicht hochsensibel sind. Das Unverständnis trifft aber auf eine vorhandene Eigenheit.
Trotzdem ist die Verwirrung über Hochsensibilität als Traumafolge nachvollziehbar, schreibt Roohan, denn da hochsensible Kinder Reize intensiverer wahrnehmen, werden sie auch stärker beeinträchtigt von Kritik, chaotischen Lebensumständen oder emotionaler Vernachlässigung. Anders gesagt: Traumatische Erlebnisse sind für hochsensible Menschen schwerer zu verkraften.
Fazit: Wenn du hochsensibel bist und ein frühes Trauma hast, solltest du wissen, dass beides zutrifft: Du bist von Natur aus hochsensibel, und du hast schwierige Erfahrungen gemacht, die sich auf dein Leben auswirken.
Hochsensibilität und Bindungstrauma – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Es ist wichtig sich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Hochsensibilität und Bindungstrauma bewusst zu machen. Denn während Hochsensibilität eine angeborene Eigenschaft ist, entsteht ein Bindungstrauma als Folge wiederholter Ereignisse.
Beides ist eng verknüpft mit unserem vegetativen Nervensystem, so dass es in Folge mangelnder Abgrenzung schnell zu Missverständnissen kommen kann (siehe auch Ist Hochsensibilität eine Traumafolge?).
Übererregung
Ein wesentliches Überschneidungsmerkmal ist die (vegetative) Übererregbarkeit, die sich in Form von Reizüberflutung und Rückzugsbedürfnis bei hochsensiblen Menschen zeigt.
Bei Menschen mit einem Bindungstrauma können diese Reaktionen zusätzlich mit innerer Unruhe, Angst oder sogar Panikattacken einhergehen, da verstärkter Stress bei Ihnen traumatische Erinnerungen triggern kann, die mit einem hohen im Körper „gespeicherten“ Erregungsniveau verknüpft sind. Auch Dissozation kann eine Folge von Übererregung sein.
Emotionen
Im Hinblick auf Emotionen gibt es Überschneidungen, aber auch Unterschiede.
Hochsensible neigen zu einer intensiven emotionalen Wahrnehmung während Menschen mit einem frühem Trauma häufig Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation haben, was sich in Gefühlsausbrüchen oder Problemen mit der Steuerung von Emotionen äußern kann.
Im Rahmen von emotionalen Flashbacks werden von einem Bindungstrauma Betroffene außerdem ggf. von „alten“ Gefühlen aus ihrer Kindheit überflutet, die mit den traumatischen Erfahrungen verknüpft sind und zu großen Schwierigkeiten sich selbst zu regulieren führen können.
Rückzugsbedürfnis
Während das Rückzugsbedürfnis bei hochsensiblen Menschen von ihrer gesteigerten Wahrnehmung herrührt, die sie schneller erschöpft, tritt das Rückzugsverhalten bei Menschen mit frühem Trauma häufig in Folge von fehlender Sicherheit sowie aufgrund vorhandener Kontaktschwierigkeiten auf. Auch die negative Selbstwahrnehmung und die veränderte Lebenseinstellung traumatisierter Menschen kann sozialen Rückzug auslösen.
Körperliche Symptome
Körperliche Symptome können sowohl bei Hochsensiblen als auch bei Menschen mit einem frühen Trauma auftreten. Doch während es sich bei hochsensiblen Menschen eher um unmittelbare Sinnesreaktionen auf Dinge oder Situationen handelt, wie z.B. Geräusch- und Lichtempfindlichkeit, Nahrungsmittelunverträglichkeiten o.ä., sind körperliche Beschwerden bei Betroffenen von Bindungstrauma häufig Ausdruck von eines erhöhten Stresserlebens, bei dem der Körper sich über die Symptome zu Wort meldet, weil die Abwehr- und Kompensationsstrategien versagen.
Zusätzlich können körperliche Symptome bei Menschen mit frühem Trauma mit starken Emotionen gekoppelt sein, Hunger z.B. wird dann nicht nur als unerträglich eingestuft (wie bei hochsensiblen Menschen), sondert triggert Gefühle von innerer Not und Verzweiflung, die mit einem Empfinden existentieller Bedrohung einhergehen können.
Beziehungsgestaltung
Beziehungsprobleme können auch sowohl bei Hochsensibilität und bei Bindungstrauma auftreten. Doch während hochsensible Menschen in der Regel über ausreichend gute Bindungserfahrungen und einen sicheren Bindungsstil verfügen, der es erforderlich macht, ihre speziellen Bedürfnisse mit einer Beziehung in Einklang zu bringen, fehlt Menschen mit einem frühen Trauma nicht nur Sicherheit im Kontakt mit anderen, sondern auch die Fähigkeit mit Nähe umzugehen und Beziehungen überhaupt einzugehen.
Was ist der Unterschied zwischen Hochsensibilität und Bindungstrauma?
Der Unterschied zwischen Hochsensibilität und frühem Trauma besteht in folgenden Punkten:
1. Ursprung
Hochsensibilität ist ein genetisch angeborenes Persönlichkeitsmerkmal, dass sich auf die Sinneswahrnehmung und weitere Eigenschaften auswirkt und ein Leben lange bestehen bleibt; ein Bindungstrauma entsteht aufgrund von traumatischen Erfahrungen in unseren frühen Lebensphasen und darf häufig therapeutischer Unterstützung.
2. Symptome
Hochsensible haben eine feine Reizwahrnehmung, ein hohes Empathievermögen, intensive Emotionen sowie ein starkes Ruhe- und Rückzugsbedürfnis; bei Menschen mit Bindungstrauma stellt sich zwar auch schnell ein Zustand von Übererregung und Überreizung ein, aber es kommen zusätzlich eine Reihe von traumaspezifischen Symptomen hinzu (siehe Welche Folgen kann ein Bindungstrauma haben?).
3. Veränderbarkeit
Hochsensible ist man ein Leben lang, ein Bindungstrauma kann man mit Hilfe von Therapie und Unterstützung bearbeiten und integrieren.
4. Selbstregulation
Diese Fähigkeit bringen Hochsensible in der Regel mit, d.h. mit Ausnahme extremer Überreizung sind sie gut in der Lage ihre Emotionen und Reaktionen zu steuern und für sich zu sorgen; bei Menschen mit Bindungstrauma mangelt es an dieser Steuerungsfähigkeit, d.h. sie pendeln häufig zwischen den beiden extremen Polen der Übererregung und Untererregung, ohne ihr Gleichgewicht zu finden und müssen sich die Fähigkeit zur Selbstregulation erst aneignen.
Bindungstrauma bei hochsensiblen Menschen
Aufgrund ihrer angeborenen gesteigerten Wahrnehmung für Reize jeglicher Art haben Menschen mit dem Persönlichkeitsmerkmal Hochsensibilität ein erhöhtes Risiko ein Bindungstrauma zu erleiden. Denn sie fühlen von Anfang an mehr und sind somit auch für negative Einflüsse von außen empfänglicher als nicht-hochsensible Personen.
Das hochsensible Kind kommt auf die Welt und ist für ein Leben mit geschärfter Wahrnehmung, tiefgehender Verarbeitung und emotionaler Sensibilität gerüstet. Sein Gehirn verfügt bereits über die Grundlage für Kreativität, mitfühlende Beziehungen und intuitive Problemlösungen. Und zum Überleben widriger Gegebenheiten.
Theorie der unterschiedlichen Empfänglichkeit
Das tragische Aufeinandertreffen eines Bindungstrauma mit dem natürlichen Merkmal der Hochsensibilität verstärkt diese Eigenschaft weiter, was auf der sogenannten „differential susceptibility theory“, zu Deutsch „Theorie der unterschiedlichen Empfänglichkeit“ beruht.
Dieser von Belsky und Pluess (2009) formulierte Ansatz geht davon aus, dass anfällige Individuen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen (hier: HSP) sowohl positiv als auch negativ von Umweltfaktoren beeinflusst werden können. Vergleicht man also einen hochsensiblen Menschen mit einem nicht-hochsensiblen, schneidet er bei einem wenig unterstützenden Erziehungsstil im Elternhaus schlechter ab.
Hochsensibilität verstärkt Folgen eines Bindungstraumas
Das bedeutet leider auch, dass sich die Auswirkungen eines Traumas verstärken und bis ins Erwachsenenalter fortsetzen. Der hochsensible Kind wird mehr fühlen, mehr leiden und später im Leben anfälliger für Ängste und Depressionen sein.
Die Tendenz, sich leicht zu erschrecken, die sich zum Beispiel aus der sensorischen Sensibilität bei Hochsensibilität ergibt, bekommt bei einem frühen Trauma eine andere Bedeutung. Das hochsensible Kind ist nicht nur ohnehin schon leicht zu erschrecken, sondern wird durch das Trauma auch noch übermäßig wachsam und erschreckt durch die wahrgenommene Bedrohung.
Die Tiefe der Verarbeitung, die ein Kennzeichen der Hochsensibilität ist, wird durch ein Trauma zu einem „Wiederkäuen“. Die traumatisierte hochsensible Person wiederholt das Trauma und sucht ständig nach einer Antwort auf die Frage „Warum?“.
Ein Teufelskreis, den ich aus eigener Erfahrung nur zu gut kenne.
Was brauchen hochsensible Menschen mit einem Bindungstrauma?
Wie viele Menschen mit Hochsensibilität und Bindungstrauma wusste ich lange nicht wie fehlende emotionale Einstimmung und Ko-Regulation zu meinen Symptomen wie Angst, Depressionen, Leistungsorientierung, Essstörungen und einigem mehr beigetragen hat.
Jahrelang nahm ich an, dass etwas von Grund auf mit mir nicht stimmt, weil ich mich nirgends zugehörig und verbunden fühlen konnte. Stattdessen verbrachte ich viel Zeit mit Büchern, um herauszufinden wie ich mir selbst helfen kann oder allein beim Puzzeln oder Basteln. Wege zur Bewältigung meiner Gefühle von Alleinsein und Einsamkeit in einer Zeit, in der ich emotional verfügbare Bezugspersonen gebraucht hätte.
Denn wenn wir emotional nicht das bekommen, was wir benötigen, nicht in den Arm genommen werden, die Zuneigung unserer Bezugspersonen nicht in deren Augen sehen, uns die meiste Zeit zurückziehen und verängstigt fühlen, dann entsteht irgendwann die Überzeugung, dass wir nicht liebeswert sind und die Welt nicht sicher.
Selbsterkenntnis als Ausgangspunkt
Aber die gute Nachricht ist: Wenn du das hier liest und vermutest, dass du von Hochsensibilität und Bindungstrauma betroffen bist, dass ist das eine wichtige Erkenntnis!
Denn mit diesem Wissen kannst du ein neues Verständnis für dich und deine Schwierigkeiten entwickeln und lernen was du brauchst, um dein Leben in die Hand zu nehmen und zu verändern.
Dazu braucht es viel Mut sich mit Dingen zu konfrontieren, die möglicherweise schmerzhaft sind und aus gutem Grund lange Zeit verdrängt wurden. Denn wenn wir als Kinder nicht die Erfahrung machen durften bedingungslos geliebt zu werden, braucht es eine Menge Selbstmitgefühl, um uns selbst das zukommen lassen zu können, was wir uns lange vergeblich gewünscht haben und uns kein Partner jemals geben kann.
Hochsensible Menschen mit einem Bindungstrauma brauchen aus meiner Sicht deshalb
- Wissen über die zugrunde liegenden Hintergründe
- Durchhaltevermögen
- Geduld
- Neugier
- eine große Portion Mut
- Selbstverantwortlichkeit
- Selbstmitgefühl und
- passende Hilfe und Unterstützung
um das (nach)lernen zu können, was in ihrer Kindheit gefehlt hat.