
Traumasensitive Achtsamkeit
Möchtest du wissen wie du trotz traumatischer Erfahrungen sicher Achtsamkeit praktizieren kannst? Hier findest du grundlegende Informationen und nützliche Tipps.
Immer in Alarmbereitschaft
Es gab eine Zeit, in der jede Regung meines Körpers mit Alarm verbunden war. Ein Ziehen in der Brust wurde zum beginnenden Herzinfarkt, Kribbeln am Kopf zur Neuropathie, Erschöpfung zum behandlungsbedürftigen Eisenmangel und ein Piepsen im Ohr sofort zum Hörsturz. Von Achtsamkeit keine Spur.
Mein Leben bestand nur noch aus Körperempfindungen und Angst, die sich wechselseitig zu verstärken schienen. Mich mit geschlossenen Augen auf meinen Atmen zu konzentrieren, lag mir in etwa so fern wie barfuß ohne Wasser durch die Wüste zu laufen oder nackt durch die Bonner Innenstadt.
Achtsam statt angespannt
Erst als ich anfing die Signale meines Körpers zu entschlüsseln und Stück für Stück wieder Ruhe in mein gesamtes System zu bringen, begann ich auch achtsamer zu werden. Ich stellte fest, dass ich – mit ein wenig Übung und Ruhe – sämtliche Körperempfindungen auch ohne Angst wahrnehmen konnte.
Ich lernte das, was ist da sein zu lassen. Und erlebte ein neues Körperbewusstsein. Heute verbinde ich traumasensitive Achtsamkeit mit Selbstregulation, indem ich sie mit Bewegung, Körperübungen und Atmen kombiniere. Am liebsten natürlich draußen, in der Natur.
Informieren statt ignorieren
Traumasensitive Achtsamkeit bedeutet bei der Durchführung von Achtsamkeits- und Meditationsübungen Informationen über Trauma zu berücksichtigen. Laut David Treleaven, einem Psychotherapeuten der sich auf Trauma und Achtsamkeit spezialisiert hat, sollte zumindest ein grundlegendes Verständnis von Trauma vorhanden sein, wenn es um das Unterrichten von Achtsamkeit geht.
Aus dem Gleichgewicht statt im Moment
In traditionellen Achtsamkeitspraktiken werden Menschen häufig aufgefordert, sich mit den Empfindungen in ihrem Körper zu verbinden. Für traumatisierte Menschen fühlt sich diese Form der Verbindung nicht immer sicher an.
Da es bei Achtsamkeit darum geht, unsere Erfahrung so wahrzunehmen, wie sie ist, wird jeder von uns eine andere Erfahrung machen, die auch von unserer Vorgeschichte geprägt ist.
Für traumatisierte Menschen kann die Achtsamkeit Dinge an die Oberfläche bringen, die sie noch nicht verarbeiten können oder für deren Bewältigung sie professionelle Unterstützung durch einen Traumatherapeuten benötigen.
Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen
Daher beginnt die Berücksichtigung von Trauma bereits mit der Erkenntnis, dass Achtsamkeits- und Meditationsübungen Dinge wie Flashbacks, Überforderung und Dysregulation auslösen können.
Nach dem aktuellen Verständnis von posttraumatischem Stress werden traumatische Erinnerungen und Emotionen im Körper gespeichert. Als Folge neigen manche traumatisierte Menschen dazu, sich in bestimmten Situationen von ihrem Körper abgekoppelt zu fühlen – bekannt als Dissoziation.
Was leider das Gegenteil von Achtsamkeit darstellt.
Studieren geht über probieren
Traumasensiblen Modifikationen der Achtsamkeit können jedem zugutekommen, der ein gewisses Maß an Trauma erlebt hat, insbesondere jenen mit den Symptomen von posttraumatischem Stress oder einer Dysregulation des Nervensystems. Das zeigen auch die jüngsten Forschungsergebnisse.
So weist eine Studie aus dem Jahr 2016 darauf hin, dass die traumainformierte achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Trauma-Informed Mindfullness-Based Stress Reduction, kurz: TI-MBSR) eine vielversprechende Behandlungsform für weibliche Überlebende von zwischenmenschlicher Gewalt ist.
Eine Studie aus dem Jahr 2021 legt nahe, dass ein achtwöchiges achtsamkeitsbasiertes, traumainformiertes Programm die Resilienz von Veteraninnen mit PTBS und chronischen Schmerzen fördert und sowohl das körperliche als auch das psychosoziale Wohlbefinden verbessert.
Laut einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2018 können achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) und achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (MBCT) wirksame Zusatz- oder Alternativbehandlungen für Menschen mit PTBS sein – aber erst seit Kurzem verfolgen sie einen traumainformierten Ansatz.
Wissen was wirkt
Eine traumasensitive Vorgehensweise – sei es im Rahmen von Achtsamkeit, beim Arzt oder anderswo – lässt sich laut den Autoren von Mindulness Exercises durch die folgenden vier „R“ definieren: Realize, Recognize, Respond und (Avoid) Re-Traumatization.
Ins Deutsche übertragen bedeutet das:
- Realisieren: Sich der Auswirkungen von Traumata bewusst sein.
- Erkennen: Wahrnehmen, dass jemand Traumasymptome zeigt.
- Reagieren: Kompetent reagieren, wenn ein Trauma bei anderen auftritt.
- Re-Traumatisierung vermeiden: Sicherstellen, dass kein Schaden angerichtet wird und eine Re-Traumatisierung vermieden wird.
Solch eine Vorgehensweise kann Betroffene in Not gezielt unterstützen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wichtig konkrete Hilfe im richtigen Moment sein kann, denn leider kennen sich immer noch viel zu wenige Menschen mit Trauma aus. Selbst Ärzte und Therapeuten sind meiner Erfahrung nach im Umgang mit traumatisierten Menschen oft überfordert.
Achtsame Anpassung
Ein traumainformierter Achtsamkeitsansatz modifiziert traditionelle Meditationspraktiken mit Techniken zur Erdung, Verankerung und Selbstregulierung, um das Nervensystem im Gleichgewicht zu halten, was traumatisierten Menschen helfen kann, ihre Symptome zu bewältigen und sich in ihrem Körper sicherer zu fühlen.
Das bedeutet, bei traumasensitiver Achtsamkeit zum Beispiel:
- eine körperliche Aktivität mit dem Bewusstsein des gegenwärtigen Augenblicks auszuführen, anstatt still zu sitzen und zu meditieren
- das Beobachten von Objekten, Farben oder dem Raum um einen herum
- aufmerksames Hören von Musik als Achtsamkeitsübung

5 Prinzipien traumasensitiver Achtsamkeit nach David Treleaven
David A. Treleaven, Ph.D., ist ein amerikanischer Psychotherapeut, der sich mit dem Zusammenhang zwischen Trauma, Achtsamkeit und sozialer Gerechtigkeit befasst. Er selbst praktiziert seit über 20 Jahren Achtsamkeit und hat ein Buch mit dem Titel Trauma-Sensitive Mindfulness. Practices for safe and transformative healing verfasst, das auch auf Deutsch erhältlich ist.
In seinem Buch beschreibt Treleaven 5 Prinzipien, die er als Grundlage für traumasensitive Achtsamkeit sieht:
1. Im „Window of Tolerance“ bleiben
Das Konzept beschreibt den Toleranzbereich, indem sich unser Nervensystem zwischen Über- und Untererregung hin und her bewegt. Übererregung tritt am oberen Ende des Bereichs auf und zeigt sich z.B. durch eine erhöhte Muskelspannung, verstärkte emotionale Reaktionen, Untererregung ist der Zustand am unteren Ende des Bereichs und z.B. mit Depressionen, Gefühllosigkeit und sozialer Isolation gekoppelt.
Nur wenn wir uns zwischen diesen beiden Extremen und ohne allzu große Ausreißer nach oben oder unten bewegen, fühlen wir uns wohl. Das Konzept ist im Zusammenhang mit Achtsamkeit wichtig, denn traumatisierte Menschen geraten schnell aus ihrem Toleranzbereich (=Dysregulation) und haben dann mit einer Verstärkung ihrer Traumasymptome zu kämpfen.
Laut Treleaven ist es wichtig,
- auf Dysregulation zu achten
- sich um Stabilität und Sicherheit zu kümmern
- auch andere über das Window of Tolerance zu informieren
- einen individuellen Maßstab (z.B. Atem) für den eigenen Zustand zu finden
- zu erkennen wann eine Übung abgebrochen werden sollte
- den Atem zur Regulation zu nutzen
2. Aufmerksamkeit lenken, um Stabilität zu fördern
Bei diesem Prinzip geht es darum, dass während einer Achtsamkeitsübung automatisch traumatischen Stimuli, wie Gedanken oder Körperempfindungen, getriggert werden können. Das gehört zum Prozess der Traumaheilung. Um diese Stimuli kennenzulernen und besser mit ihnen umgehen zu können, braucht es aber Zeit.
Wird zu schnell zu viel Aufmerksamkeit auf diese Stimuli gelenkt, können Traumasymptome verstärkt werden. Es geht also darum die Aufmerksamkeit während der Achtsamkeitsübung gezielt von diesen Stimuli abzuziehen und sich andere Anker zu suchen.
Deshalb kann es nach Treleaven u.a. hilfreich sein
- sich stabile Anknüpfungspunkte für seine Aufmerksamkeit zu schaffen
- die Aufmerksamkeit während dem Üben neu auszurichten
- sich an seiner Umgebung zu orientieren
- sich auf die vorhandene Resilienz zu fokussieren
3. Den Körper berücksichtigen
Achtsamkeit zu praktizieren, braucht Körper und Kopf. Nach heutigem Wissen wir ein Trauma aber im Körper gespeichert, so dass eine Fokussierung auf den Körper für traumatisierte Menschen mit besonderen Herausforderungen verbunden sein kann.
Um sich ihren Körperempfindungen zu entziehen, kann es im Extremfall zur Dissoziation kommen, einem Zustand, in dem die Wahrnehmung nicht mehr korrekt funktioniert und Missempfindungen, Fremdheitsgefühlen, Erinnerungslücken und einiges mehr auftreten können.
Die Verbindung zu eigenem Körper ist für die Traumaheilung wichtig, aber alles andere als einfach, denn sie setzt eine behutsame Auseinandersetzung mit den Körperempfindungen voraus, die mit dem Trauma verknüpft sind. Deshalb ist es wichtig, den Zusammenhang zwischen Trauma und Körper beim Üben von Achtsamkeit zu berücksichtigen.
Treleaven schreibt dazu, dass es essenziell ist
- Teilnehmern die Wahl beim Üben zu lassen (z.B. offene Augen, Haltung)
- auch Bewegung in die Praxis einzubeziehen
- auf die Zeichen einer Dissoziation zu achten
- äußere Reize zur Erdung nutzen (Fühle, Schmecken, Riechen, Hören, Sehen)
- vorsichtig mit Body Scans umzugehen
- flexibel im Hinblick auf der die eingenommene Haltung zu sein
- seine körperlichen Grenzen zu wahren und zu achten
- eine sichere Umgebung zu schaffen (Licht, Privatsphäre, Ausgänge, Vorhersagbarkeit)
- ein (möglichst) geruchsfreie Umgebung zu schaffen
4. Achtsamkeit in Beziehung praktizieren
Ein Trauma in Abgeschiedenheit zu heilen ist unmöglich, schreibt Treleaven. Wir brauchen dafür den Kontakt zu anderen Menschen, um uns sicher zu fühlen und uns zu regulieren. Auch im Rahmen von Achtsamkeit sollten wir zwischenmenschliche Beziehungen nutzen, sei es durch regelmäßige Gespräche oder durch Einbeziehung von Experten.
Laut Treleaven ist es unter anderem wichtig,
- die (Trauma-) Vorgeschichte zu erfassen, z.B. über einen Fragebogen
- professionelle Traumaexperten einzubinden
- sich auf Kommunikations- und Verhaltensregeln zu einigen
- den zwischenmenschlichen Kontakt beim Üben zu nutzen
5. Sozialen Kontext einbeziehen
Ein Trauma kann jeden treffen. Es gibt aber Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft oder sozialen Zugehörigkeit anfälliger sind. Deshalb ist es wichtig diese Aspekte im Zusammenhang mit Achtsamkeit zu berücksichtigen. Wir sollten uns unserer eigenen sozialen Zugehörigkeit und der damit verbundenen Machtverhältnisse bewusst sein, schreibt Treleaven, denn sie können unser Handeln beeinflussen. Er hält es deshalb auch für wichtig, über diese Themen offen zu diskutieren und wenn nötig zu handeln. Zum Beispiel durch das Anprangern von Ungerechtigkeiten oder das Engagement für soziale Gerechtigkeit.
Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft, konzentriere den Geist auf den gegenwärtigen Moment.
–Buddha
4 Tipps für den Start mit traumasensitiver Achtsamkeit
Traumasensitive Achtsamkeit ist ein recht neues Konzept und die Forschung dazu ist noch begrenzt. Da sich nicht jeder Meditationslehrer damit auskennt, ist es durchaus sinnvoll selbst danach zu fragen.
Auf der Seite von PsychCentral, einer amerikanischen Website zum Thema psychische Gesundheit, habe ich folgende Tipps gefunden:
Tipp 1: Einen sicheren Platz finden
Dieser Tipp gilt sowohl für die individuelle Achtsamkeitspraxis als auch für die Teilnahme an Kursen. Sicherheit und Wohlfühlen sollten für traumatisierte Menschen an erster Stelle stehen. Das gilt sowohl für die gewählten Räumlichkeiten als auch für das zwischenmenschliche Verhältnis.
Tipp 2: Auf eigene Trigger achten
Um zu vermeiden, dass unangenehme Erinnerungen und Gefühle ausgelöst werden, ist es wichtig auf die eigenen Trigger zu achten. Wenn wir sie kennen, können wir sie von vorneherein vermeiden, wie z.B. einen bestimmten Geruch, oder lernen mit ihnen umzugehen, z.B. bei negativen Gedanken.
Tipp 3: Sich einen Wohlfühlort erschaffen
Für den einen ist das ein Kissen vor der Balkontür, für den anderen ein schöner Baum im Wald. Wichtig ist, sich mit dem zu umgeben, was guttut, z.B. Lieblingsduft oder Kuschelsocken, und den Ort so einzurichten, dass wir ihn mit positiven Gefühlen verbinden.
Tipp 4: Virtuell praktizieren
Aufgrund von Corona gibt es inzwischen eine Vielzahl von Online-Angeboten zum Thema Achtsamkeit. Dadurch ist es gut möglich auch von zu Hause an einem Kurs teilzunehmen. Das hat den Vorteil, dass wir in unserer gewohnten Umgebung bleiben, die wir unseren individuellen Bedürfnissen nach gestalten können.
Achtsamkeit mal anders
Du siehst, auch mit Trauma kannst du Achtsamkeit praktizieren. Zugeschnitten auf deine Bedürfnisse und deine Geschichte. Aus meiner Sicht überwiegen die positiven Aspekte von Achtsamkeit, da sie uns ins Hier und Jetzt bringt, was im Rahmen von Traumaheilung enorm wichtig ist.
Neugierig auf mehr?
Erfahre jetzt mehr über den Zusammenhang zwischen Trauma und Wald und wie traumasensitives Waldbaden aussehen kann. Ein wichtiger Ansatz für alle, die von Trauma betroffen sind oder die mit Menschen arbeiten.