10 Dinge über Trauma, die ich gerne früher gewusst hätte

  • Beitrags-Kategorie:Erfahrungsbericht / Trauma
  • Beitrag zuletzt geändert am:Oktober 1, 2024
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Einsichten aus einem Leben mit Trauma

Fragst du dich manchmal, warum es dir trotz deines Wissens über Trauma immer noch nicht besser geht? Oder warum es so schwierig ist, deinen Weg im Umgang mit Trauma zu finden? Obwohl du schon vieles ausprobiert hast?

Falls ja, kann ich dich beruhigen, denn mit diesen Fragen bist du nicht allein.

Auch mir ginge es lange Zeit so. Und obwohl ich vor über sechs Jahren endlich die Ursache hinter meinen Problemen erkannt habe und angefangen habe die Zusammenhänge besser zu verstehen, steht mein Leben ab und zu Kopf weil ich getriggert wurde oder der angestaute Stress mein Toleranzfenster sprengt.

Aber ich habe auch viel gelernt im Umgang mit meinem Trauma und teile diese Einsichten heute mit dir.

Mit meinem heutigen Wissen hätte ich damals sicher andere Fehler gemacht

Los geht’s mit den 10 Dinge über Trauma, die ich gerne schon früher gewusst hätte, aber erst heute weiß:

1. Reden allein hilft nicht

Auch wenn fast alle Therapien auf Gesprächen basieren, hilft Reden allein auf Dauer nicht, um nachhaltige Veränderungen anzustoßen. Solange wir in erster Linie im Kopf unterwegs sind, ändert sich meiner Meinung nach wenig.

Denn ein Trauma steckt immer im Körper und es braucht einen Zugang über den Körper, um die Symptome und Folgen eines Traumas aufzulösen. Daran geht für mich nach vier Jahren Traumatherapie kein Weg mehr vorbei.

Impuls für dich:

Überleg dir, bevor du eine Therapie anfängst, was dein Ziel ist. Suchst du in erster Linie emotionale Unterstützung? Willst du gezielt an deinem Verhalten arbeiten? Oder strebst du nach langfristigen und nachhaltigen Veränderungen? Wenn du klar vor Augen hast, was du in deiner aktuellen Situation gerade brauchst, hilft dir das, Enttäuschungen zu vermeiden, Geld und Zeit zu sparen und die Unterstützung zu bekommen, die jetzt gerade zu deinem Ziel passt.

2. Veränderung braucht Zeit

Egal wie viele Bücher wir schon zum Thema Trauma gelesen haben oder wie viel Zeit wir bereits in Therapien verbracht haben, um besser mit einem Trauma leben zu lernen, braucht es Zeit. Oft mehr Zeit als uns lieb ist.

Insbesondere wenn es um ein Bindungs- oder Entwicklungstrauma geht, das besonders intensive Arbeit erfordert, weil es auf unseren frühesten zum Teil vorsprachlichen Erfahrungen und Prägungen beruht, die sich nicht mal eben umschreiben lassen.

Impuls für dich:

Auch die Entwicklung von Selbstmitgefühl und Verständnis für die eigene Geschichte braucht Zeit. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer es sein kann, die Geduld aufzubringen, wieder und wieder mit den gleichen Symptomen und Auswirkungen meines Traumas konfrontiert zu werden. Doch egal wie sehr ich mir Heilung wünsche, sie braucht Zeit.

Lese-Tipp: Wenn du mehr über Selbstmitgefühl bei Trauma lesen willst, empfehle ich dir den Beitrag Das größte Geschenk: Selbst-Mitgefühl von Dami Charf zum Weiterlesen.

3. Ohne fremde Hilfe geht es (aus meiner Sicht) nicht

Auch wenn zum Teil etwas anderes suggeriert wird, hat Selbsthilfe im Umgang mit Trauma aus meiner Sicht auch Grenzen. Wir brauchen zur Heilung traumatischer Erfahrungen auch ein menschliches Gegenüber, das unsere Wahrnehmung „bezeugt“ und uns gleichzeitig einen geschützten Raum für neue Erfahrungen bietet.

Nicht ohne Grund weiß man heute, dass die Beziehung zum Therapeuten oder der Therapeutin eine wichtige Rolle für das Gelingen der Therapie spielt. Für Menschen mit Trauma aus meiner Sicht ganz besonders. Nach über 20 Jahren Selbsterfahrung weiß ich, dass erst die passende Begleitung mir geholfen hat, zu mir selbst zu finden.

Impuls für dich:

Auch wenn es aus unterschiedlichen Gründen schwierig sein kann, eine Wahl hinsichtlich externer Unterstützung zu treffen, ist es wichtig, auf dein Bauchgefühl zu hören. Denn wenn die Chemie zwischen zwei Menschen nicht stimmt, bringt auch die beste Therapiemethode wenig.

Sei stark genug, um unabhängig zu bleiben, sei klug genug, um zu erkennen, wenn du Hilfe brauchst, sei weise genug darum zu bitten.
-Unbekannt

4. Therapie ist nicht gleich Therapie

Leider habe ich persönlich viel zu lange an der Überzeugung festgehalten, dass mir meine Therapie schon die richtige Unterstützung bietet. Immerhin bin ich jede Woche brav zum vereinbarten Termin erschienen.

Aus heutiger Sicht ziemlich naiv, finde ich, denn das ist ein bisschen so, als ob man einen Bergführer bucht, ohne zu wissen, welchen Berg man eigentlich besteigen will. Anders ausgedrückt: Beides ist wichtig, das Ziel und die Begleitung. Auch in einer Therapie.

Impuls für dich:

Wenn du merkst, dass du keine Fortschritte machst oder sich wenig Veränderung einstellt, trau dich, die gewählte Therapiemethode oder das therapeutische Vorgehen zu hinterfragen. Sprich über deine Wahrnehmung mit deinem Therapeuten oder deiner Therapeutin. Vielleicht steckst du auch nur in einer schwierigen Phase. Falls nicht, hab den Mut eine andere Therapie(methode) in Betracht zu ziehen.

5. Ohne Diagnose läuft (oft) nicht viel

Die deutsch Bürokratie macht auch vor Menschen mit Trauma nicht Halt. Denn jeder, der schon mal beim Arzt war, weiß vermutlich, dass dort Codes für die Verschlüsselung und Dokumentation von Diagnosen genutzt werden.

Da aber nur die wenigsten von Trauma Betroffenen alle „klassischen“ Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung aufweisen, bekommen viele Menschen mit Trauma eine unvollständige oder sogar “falsche” Diagnose, wie zum Beispiel Depression oder Angststörung.

Für komplexe Traumafolgestörungen, wie das Bindungs- und Entwicklungstrauma, gab es bisher gar keinen Code. Das soll sich zwar künftig ändern, aber ob dadurch mehr Menschen passende traumaspezifische Hilfe bekommen, wage ich zu bezweifeln.

Impuls für dich:

Lass dich von Diagnosecodes nicht in die Irre führen. Viel wichtiger ist es, Experten zu finden, sich mit Trauma auskennen und dir mit Verständnis begegnen, sei es jetzt ein Hausarzt, Facharzt oder Therapeut.

6. Selbstregulation ist die Basis für Traumaheilung

Unter Selbstregulation versteht man die Fähigkeit, die eigenen Gedanken, Gefühle und das eigene Verhalten so steuern zu können, dass unsere Bedürfnisse befriedigt und unsere Ziele erreicht werden.

Was am besten funktioniert, wenn wir das als Kinder gelernt haben. Aber auch im Erwachsenenalter lässt sich Selbstregulation “nachlernen”. Denn wir brauchen diese Fähigkeit, um nachhaltige Veränderungen zu erzielen.

Laut Dami Charf haben wir ein gutes Maß an Selbstregulation erreicht, wenn wir weder ständig durch (alte) Emotionen überflutet werden noch andauernd mit Grübeln befasst sind und es schaffen zwischen Reiz und Reaktion (immer öfter) eine Pause zu machen.

Impuls für dich:

Fang klein an. Wenn wir ein sehr dysreguliertes Nervensystem haben, das mit einem engen Toleranzfenster gekoppelt ist, können sich schon minimale Veränderungen positiv auswirken oder aber zur Überforderung führen. Mehr bringt also nicht mehr, zumindest beim Erlernen von Selbstregulation.

Tipp: Du willst mehr über Selbstregulation wissen? In meinem Beitrag Dein Nervensystem regulieren: 13 Tipps für dich zum Ausprobieren findest du Informationen und Anregungen, um dein Nervensystem zu regulieren.

7. Was sich wie ein Rückfall anfühlt, ist gar keiner

Gerade noch haben wir uns über unseren Fortschritt gefreut, doch schon am nächsten Tag ist die Freude vorbei, wenn wir merken, dass alte Muster oder Vermeidungsstrategien wieder aktiv sind.

Dabei sind solche als Rückfall wahrgenommenen Phänomene völlig normal. Auch wenn es sich so anfühlt, ist das Ganze vorübergehender Natur. Und wenn wir uns wieder „sortiert“ haben, stellen wir schnell fest, wie weit wir eigentlich schon auf unserem Weg gekommen sind.

Bis zum nächsten „gefühlten“ Rückfall, der vermutlich einfach dazu dient, uns darauf aufmerksam zu machen, wo wir herkommen und dass nachhaltige Veränderung einfach Zeit braucht.

Impuls für dich:

Versuche dich in solchen Momenten an die Dinge zu erinnern, die du schon gemeistert hast. Ich weiß, dass das gerade an “schlechten” Tagen sehr schwierig ist. Dennoch kann es dabei helfen, unsere Wahrnehmung neu auszurichten und bewusst auf die eigenen Fähigkeiten zu lenken.

Umarmung eines Baums in einem Park - Naturingmyself - 10 Dinge über Trauma, die gerne schon früher gewusst hätte

8. Es braucht Durchhaltevermögen

Geduld ist häufig nicht mein Ding. Zu blöd, dass Traumaheilung ein großes Maß an Durchhaltevermögen verlangt. Wir müssen immer wieder den Mut aufbringen uns den eigenen Themen zu stellen, an ihnen “dran” zu bleiben, denn es ist die kontinuierliche Arbeit über längere Zeit, die wirklich zählt und irgendwann auch Früchte trägt.

Das kann ziemlich anstrengend sein, wie ich inzwischen weiß, denn es braucht immer wieder Kraft und Motivation, doch das Durchhaltevermögen lohnt sich, wenn wir irgendwann merken, dass sich Veränderung einstellt.

Impuls für dich:

Aufgeben sollte keine Option sein. Such dir Unterstützung durch andere Betroffene, zum Beispiel in einer Selbsthilfegruppe, oder bei kostenfreien Beratungsstellen. Mir hilft es auch, Berichte oder Bücher von anderen Menschen mit Trauma zu lesen.

Die Kunst ist einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.
-Winston Churchill

9. Körper plus Kopf

Ich habe aus verschiedenen Gründen ein schwieriges Verhältnis zu meinem Körper. Doch erst jetzt ist mir klar geworden, dass ich jahrelang versucht habe, ohne ihn gesund zu werden. Mit mehr als mäßigem Erfolg.

Es kamen immer mehr Symptome hinzu, bis ich endlich anfing zu begreifen, dass es SOS-Signale meines Körpers waren, der keine andere Chance sah, um den Kopf „auszuschalten“.

Erst als mein Körper in der Therapie Berücksichtigung fand, ging es mit Körper plus Kopf bergauf. Nachhaltige Traumaheilung ohne den Körper ist aus meiner Sicht deshalb nicht möglich.

Impuls für dich:

Lerne mehr über den Zusammenhang von Trauma und Körper und versuche, dieses Wissen für deinen Weg der Traumaheilung zu berücksichtigen. Ich formuliere das bewusst vorsichtig, denn leider ist Körpertherapie oft keine Kassenleistung und muss privat bezahlt werden.

10. Weg statt Ziel

Der menschliche Organismus lässt sich, anders als ein wiederherstellbares Computerlaufwerk, nicht in seinen Werkszustand zurückversetzen. Mit anderen Worten: Wer traumatische Erfahrungen gemacht hat, der sollte auf dem Weg zum Ziel (der Traumaheilung) den Weg nicht aus den Augen verlieren. Denn der ist aus meiner Sicht wichtiger als das Ziel.

Anders ausgedrückt: Eine hundertprozentige Heilung gibt es nicht. Wenn man aber den eigenen Weg im Blick behält, kann man sehen, wo man gestartet ist und wo er einen vielleicht noch hinführen kann. Daher finde ich den von Konfuzius stammenden Spruch “Der Weg ist das Ziel” im Zusammenhang mit Traumaheilung sehr zutreffend.

Impuls für dich:

Wo stehst du auf deinem Weg? Wo kommst du her? Wo soll es für dich hingehen? Sich zu orientieren, kann hilfreich sein, um die nächsten Schritte auf dem eigenen Weg mit Trauma zu bestimmen und auch um sich selbst Mut zu machen für den Weg, der vielleicht noch vor einem liegt.

Fazit: Ohne Tiefen gäbe es auch keine Höhen

Ein Leben mit Trauma gleicht manchmal einer Achterbahnfahrt: Es geht rauf und runter und man ist froh, wenn man nicht aus der Kurve fliegt. Anhalten kann man die Fahrt zwar nicht, aber man lernt sie besser zu steuern und neue Erfahrungen zu machen.

Daher bin ich dankbar und froh, dass ich auf meinem Weg schon viel lernen durfte.

Zum Beispiel, dass Reden allein nicht reicht, Veränderungen Zeit brauchen, es ohne fremde Hilfe nicht geht, Therapie nicht gleich Therapie ist, ohne Diagnose (oft) nicht viel läuft, wie grundlegend Selbstregulation für die Traumaheilung ist, gefühlte Rückfälle gar keine sind, Durchhaltevermögen gefragt ist, Körper plus Kopf zählen und der Weg wichtiger ist als das Ziel.

Heute weiß ich deshalb die ruhigen Phasen meiner Achterbahnfahrt zu schätzen, arbeite daran seltener aus der Bahn geworfen zu werden und habe in schwierigen Zeiten die innere Gewissheit, dass sich die Dinge auch wieder ändern werden.

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