Entspannung auf Knopfdruck
Ich beneide Menschen, die immer und überall schlafen können. Egal ob im Bus, Auto, Zug oder Flugzeug: Kaum sind die Augen zu, schon sind sie weg. Vermutlich fällt es ihnen leicht loszulassen und sich in fremden Umgebungen sicher zu fühlen. Wenn ich tagsüber schlafe, bin ich entweder ziemlich krank oder total erschöpft. Mehr als ein Kurzschlaf wird es trotzdem nie.
Kein Wunder, dass mir auch Entspannung schwerfällt. Mein Nervensystem ist permanent in Alarmbereitschaft, als wäre ich auf Bärenjagd in Alaska statt im Home-Office in Bonn. An einem schlechten Tag fühle ich mich schon mal als hätte ich zwei Kannen Kaffee getrunken und versehentlich an einen Elektrozaun gefasst. Und das ohne ein Milligramm Koffein im Blut.
In solchen Momenten wünsche ich mir dann nichts sehnlicher als Entspannung per Knopfdruck. Warum gerade bei Trauma Entspannung nicht auf Knopfdruck funktioniert und was die Alternative ist, erfährst du in diesem Beitrag.
Reine Nervensache
Entspannen können wir nur, wenn wir in Sicherheit sind. Ob wir das sind, bestimmt unser vegetatives Nervensystem, das autonom, heißt ohne willentliche Kontrolle, alle wichtigen Grundfunktionen unseres Körpers steuert. Dazu gehören unter anderem Herzschlag, Blutdruck, Atmung und Verdauung.
Das System gliedert sich grob gesagt in zwei entgegengesetzt wirkende Stränge: Sympathikus und Parasympathikus. Während der Sympathikus bei Gefahr Energie für unsere Reaktion mobilisiert (Kampf-oder-Flucht-Modus), baut der Parasympathikus in Erholungsphasen überflüssige Energie wieder ab (Ruhemodus) und sorgt für Entspannung.
Das oberste Ziel unsers vegetativen Nervensystem ist also Sicherheit. Um sie gewährleisten zu können, überwacht das System permanent unsere Umgebung auf mögliche Gefahren, indem es Reize aufnimmt und auswertet. Aufgenommen werden diese über unsere Sinnesorgane. Zusätzlich empfängt das vegetativen Nervensystem auch Signale von unseren inneren Organen.
Abhängig davon, wie die Bewertung von Reizen und Signalen ausfällt, aktiviert das vegetative Nervensystem den Parasympathikus (Ruhemodus, soziale Interaktion, Entspannung möglich) oder den Sympathikus (Kampf-oder-Flucht-Modus, Stresslevel erhöht).
Stuft das System eine Situation als lebensbedrohlich oder aussichtslos ein, kommt es zur Erstarrung (Totstellreflex). Dieser Zustand gleich dem von Tieren, die sich totstellen, um ihrem Verfolger zu entkommen und geht beim Menschen mit Antriebslosigkeit, Dissoziation oder Hilflosigkeit einher.
If you want to improve the world, start by making people feel safer.
– Stephen Porges
Fehlalarm dank falscher Einschätzung
Ein Trauma tritt auf, wenn ein Mensch mit etwas konfrontiert wird, was ihn überfordert und was er nicht bewältigen kann. Das kann ein einmaliges Ereignis sein, sich aber auch über einen längeren Zeitraum erstrecken.
Ob und wie stark jemand traumatisiert wird, ist individuell verschieden und hängt unter anderem auch vom Alter und der körperlichen und seelischen Gesamtverfassung ab.
Normalerweise pendelt unser vegetatives Nervensystem in einem „grünen“ Bereich zwischen Ruhemodus (Parasympathikus) und Kampf-oder-Flutmodus (Sympathikus).
Wenn wir zum Beispiel einen wichtigen Termin haben, fühlen wir uns vorher gestresst und angespannt, aber sobald der Termin vorüber ist, lässt dieses Gefühl nach und wir beruhigen und entspannen uns.
Nach einem Trauma ist dieser „grüne“ Bereich schmaler. Es kommt vermehrt zu Fehlalarmen, die uns unter Stress setzen, obwohl aktuell keine Gefahr besteht.
Da wir diese Pendelbewegung nicht willentlich steuern können, erklärt das auch, warum Entspannen auf Knopfdruck bei Trauma nicht funktioniert. Denn solange unser vegetatives Nervensystem eine Gefahr wittert, bleibt es in Alarmbereitschaft und unser Stressempfinden hoch.

Nerven brauchen Training
Wenn wir auf die Welt kommen, ist unser vegetatives Nervensystem nicht fertig entwickelt. Es muss erst lernen sich zu regulieren. Das läuft über die Beziehung zu unserer ersten Bezugsperson, meistens der Mutter, die sich auf unsere Bedürfnisse einstimmt und diese erfüllt, weil wir noch nicht in der Lage dazu sind.
Wenn das gut funktioniert, zum Beispiel indem sie uns in den Arm nimmt, um uns zu beruhigen wenn wir weinen, lernen wir mit der Zeit uns selbst zu beruhigen.
Entscheidend ist, dass unsere Bezugsperson selbst über ein reguliertes Nervensystem verfügt, da der Prozess der sogenannten Co-Regulation über eine Verbindung zwischen den beiden Nervensysteme abläuft.
Wie er genau funktioniert, ist nicht endgültig geklärt, eine wichtige Rolle scheinen aber die sogenannten Spiegelneuronen zu spielen. Das sind Gehirnzellen, die dafür verantwortlich sind, dass wir die Gefühle und Stimmungen anderer Menschen erkennen können.
Schon gewusst? Spiegelneuronen machen uns empathisch. Wir empfinden Empathie wenn sich unser Gefühlszustand an den eines anderen Menschen angleicht. Allerdings ist das stark vereinfacht, denn komplexer Gefühle wie etwa Mitgefühl entstehen in der Regel durch ein Zusammenspiel mehrerer Hirnregionen.
Misslingt dieser Prozess der Co-Regulation oder wird er gestört, wirkt sich das auf unsere Fähigkeit zur Selbstregulation aus. Wir können uns zum Beispiel schlecht selbst beruhigen oder haben später Schwierigkeiten Gefühle wahrzunehmen.
Durch die beeinträchtige Entwicklung unseres vegetativen Nervensystems fällt es uns auch später als Erwachsene unter Umständen schwerer angemessen auf Umweltreize oder Körpersignale zu reagieren.
Daher leben traumatisierte Menschen oft im Autopilot-Modus, von außen gesehen funktionieren sie und bewältigen ihren Alltag, geraten aber schnell unter Stress und können sich schlecht selbst regulieren.
Sie greifen auf Strategien zur Stressbewältigung zurück, die zwar im ersten Moment wirksam erscheinen, wie etwa übermäßiges Fernsehen zur Ablenkung, schaffen es aber langfristig nicht das Grundproblem der mangelnden Selbstregulation zu beheben.
Lieber selbst reguliert als fremd bestimmt
Wenn jemand sich selbst regulieren kann, ist in der Lage seine Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen an die Anforderungen einer Situation anzupassen, so dass das gesetzte Ziel erreicht wird.
Hier wird der Zusammenhang mit unseren frühen Erfahrungen deutlich: Wenn wir nicht gelernt haben mit unseren Gefühlen umzugehen oder sie wahrzunehmen oder ein Problem eigenständig zu lösen, fehlt uns diese Fähigkeit im Erwachsenenalter.
Im Kontext von Trauma bezieht sich Selbstregulation in erster Linie auf den Umgang mit Stress, der ja eine körperliche Reaktion darstellt, wie oben erläutert, die vom vegetativen Nervensystem gesteuert wird.
Damit ist klar: Stress ist keine Kopfsache, die wir willentlich steuern können. Wir brauchen dafür unseren Körper, der uns über seine Reaktionen zeigt, ob und wieviel Stress wir gerade erleben. Wenn wir diesen Zusammenhang begreifen, sind wir auf dem richtigen Weg.
Ohne Selbstregulation ist ein erfülltes Leben nicht möglich.
– Dami Charf
Es ist nie zu spät für Selbstregulation
Auch als Erwachsene können wir Selbstregulation noch lernen. In der Regel im Rahmen einer Therapie, wo wir neue Beziehungserfahrungen machen. Erfahrungen, die wir als Kind nicht oder nur ungenügend machen konnten.
Wir erhalten Rückmeldungen zu dem, was wir sagen, fühlen oder spüren. Dadurch lernen wir anders mit den Informationen unseres vegetativen Nervensystems umzugehen und sie gleichzeitig neu zu deuten.
Wenn es gut läuft, spüren wir im Lauf der Therapie wie das gute regulierte Nervensystem unsem dysreguliertes Nervensystem auf die Sprünge hilft und merken, dass wir uns auch selbst besser regulieren können.
Wenn uns das gelingt, nimmt die Alarmbereitschaft unseres vegetativen Nervensystems ab und unser Stresslevel sinkt quasi automatisch. Weniger Situationen werden als Gefahr gewertet und es fällt uns leichter in Kontakt mit uns und andern zu sein, weil wir vermehrt im Ruhemodus sind. Und uns Entspannung auf Knopfdruck gar nicht mehr wünschen müssen.
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