Warum Struktur für Menschen mit Trauma wichtig ist

  • Beitrags-Kategorie:Tipps / Trauma
  • Beitrag zuletzt geändert am:April 28, 2024
Du betrachtest gerade Warum Struktur für Menschen mit Trauma wichtig ist

Struktur und Trauma

Kannst du gut mit Unsicherheit umgehen und bist flexibel? Oder magst du Pläne und Struktur? Ich liebe ToDo-Listen und Vorhersehbarkeit. Kaum etwas macht mir mehr Stress als auf ein Ereignis zu warten, ohne zu wissen ob und wann es eintritt.

Sei es der Paketbote, der sich per E-Mail angekündigt hat, das mit einer Freundin vereinbarte Telefonat, oder die Deutsche Bahn, die sich mal wieder verspätet. Statt zu vertrauen, dass alles gut wird, gerate ich in eine von erhöhter Wachheit geprägte Hab-Acht-Stellung, die extrem anstrengend und schwer auszuhalten ist.

Je länger eine solche Situation anhält, desto stressiger wird es für mich. Meine Gedanken kreisen dann nur noch um das bevorstehende Ereignis, über dessen Eintritt ich jedoch keine Kontrolle habe. Ich spüre, wie meine körperliche Anspannung von Minute zu Minute zunimmt, während mein Herz schneller schlägt und ich kaum noch klar denken kann. Obwohl die Reaktion in keinem Verhältnis zum Ereignis steht, fühle ich mich jedes Mal ohnmächtig, hilflos und ausgeliefert.

Inzwischen verstehe ich, woher diese Gefühle kommen. In diesem Beitrag erfährst du daher was Struktur mit Trauma zu tun hat, wieso Struktur für Menschen mit Trauma wichtig ist und was helfen kann mehr Struktur zu schaffen.

Wieso wir Struktur brauchen

Als Babys sind wir zunächst auf Hilfe angewiesen, um zu überleben. Erst im Laufe der Zeit erwerben wir die Fähigkeiten und Kenntnisse, die wir brauchen, um unser Leben selbstbestimmt gestalten zu können.

Dabei spielen Struktur und Vorhersagbarkeit eine wichtige Rolle für unser Gehirn. Nur wenn beides gegeben ist, können wir beim Lernen auch mal entspannen. Ohne explizit darüber nachzudenken, weiß ich, zum Beispiel, dass die Herdplatte heiß wird, sobald der Herd angeschaltet wird.

Sobald aber Informationen in unserem Gehirn eintreffen, die eine drohende Gefahr ankündigen, beispielsweise ein lauter Knall beim Einschalten des Herds, werden wir automatisch in den Kampf-oder-Flucht-Modus versetzt, um reagieren zu können.

Ohne einen Wechsel zurück zu Struktur und Vorhersagbarkeit, bliebe unser Gehirn in einer Art Daueralarmbereitschaft hängen. Wir kämen nicht mehr zur Ruhe und wären pausenlos in einer Hab-Acht-Stellung gefangen. Struktur sorgt also dafür, dass unser Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle befriedigt wird.

Was ohne Struktur passiert

Wenn wir keinen geregelten Alltag haben, zum Beispiel weil wir arbeitslos oder länger krank sind, oder ständige Veränderungen unser Leben bestimmen, fehlt es uns an Orientierung. Es braucht ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit, damit wir uns sicher und geborgen fühlen. Und auch unser Körper leidet unter einem Mangel an Struktur, denn er liebt es zu wissen wann es die nächste Mahlzeit zu verdauen gibt und ab wann er sich auf einen erholsamen Schlaf einstimmen darf.

Wie Trauma und Struktur zusammenhängen

Bei einem Trauma handelt es sich um eine Situation, die mit einer außergewöhnlichen oder sogar lebensbedrohlichen Bedrohung verbunden ist, für die dem Betroffenen zum Zeitpunkt des Geschehens keine ausreichenden Bewältigunsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und die dadurch zu starken Gefühlen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Kontrollverlust führt.

Die Vorhersagbarkeit geht verloren. Als Folge fühlen sich Betroffene machtlos und ausgeliefert. Daher ist das Wiedererlangen von Sicherheit ein wichtiges Ziel bei der Behandlung von Traumafolgestörungen. Um das zu erreichen, brauchen traumatisierte Menschen laut Psychatrienetz ein bestimmtes Maß an Kontrolle über ihr Leben und die Möglichkeit eigene Entscheidungen zu treffen.

Alle Situationen im Alltag, die mit einem Verlust von Struktur und damit Sicherheit einhergehen, wie zum Beispiel die Corona-Krise, Arbeitslosigkeit oder Krankheit, können daher zu einer Verschlimmerung von Traumasymptomen führen, weil sie Betroffene erneut in Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit zurückversetzen.

Für mich war die Arbeit immer stabilisierend. Einerseits weil ich unter Menschen war, anderseits weil ich wusste, wie mein Tag aussehen würde. Doch seit der Corona-Krise bin ich primär im Home-Office und oft nicht ausgelastet. Ich befinde in einer permanenten Hab-Acht-Stellung, die mich unter enormen psychischen Stress setzt, weil es sich anfühlt, als hätte ich keinerlei Kontrolle mehr über meinen Tag. Tschüss Struktur, hallo Traumagefühle.

Wie Struktur gefördert werden kann

Als Erwachsene sind wir anders als Kinder selbst für die Struktur in unserem Leben verantwortlich. Je nachdem welche Erfahrungen wir damit gemacht haben, fällt es uns leichter oder schwerer Struktur in unseren Alltag zu bringen. Insbesondere wenn es wenig Faktoren von außen gibt, die bereits eine Tagesstruktur vorgeben.

Aber es gilt: Übung macht den Meister. Wenn du das Gefühl hast, dass dein Leben zu wenig Struktur bietet, dann hilft dir vielleicht eine der folgenden Strategien.

Halb leere Pusteblume vor einem grünen Feld und Wald bei blauem Himmel und Sonnenschein - Naturingmyself - Warum Struktur für Menschen mit Trauma wichtig ist

4 Strategien für mehr Struktur in deinem Alltag

Die folgenden vier Strategien können dir helfen mehr Struktur und damit Vorhersehbarkeit in dein Leben mit Trauma zu bringen.

1. Pläne machen

Keine Angst, du musst nicht zum Kontrollfreak werden. Denn wie heißt es so schön in einem Zitat von John Lennon: „Das Leben ist das, was passiert, während wir dabei sind, andere Pläne zu machen.“ Trotzdem hilft es Stift und Papier zu bemühen und dir einen Plan zu machen. Entweder für den Tag, für deinen nächsten Urlaub oder für die Dinge, die du noch erledigen musst.

Der Vorteil: Du kannst immer wieder deine Pläne anschauen, sie gegeben falls anpassen oder wieder verwerfen. Trotzdem geben sie dir Halt, weil sie widerspiegeln, was du dir vorgenommen hast und wie es im Idealfall laufen soll. Wenn du dir zum Aufräumen der Wohnung zum Beispiel eine ToDo-Liste erstellst, die du nach und nach abharken kannst, erhöhst du gleichzeitig noch deine Selbstwirksamkeit.

2. Pausen einplanen

Die beste Struktur nutzt wenig, wenn wir von morgens bis abends nur im Stress sind, weil wir uns entweder zu viel vorgenommen haben oder weil wir überfordert sind. Gerade für Menschen mit traumatischen Erfahrungen ist Stressmanagement wichtig.

Daher gilt: Pausen einplanen. Und zwar regelmäßig, am besten im Vorhinein, denn aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schnell man Pausen vergisst wenn man erst mal im Aktivitätsmodus (=Kampf-oder-Flucht-Modus, Sympathikus) gefangen ist.

Ehe man sich versieht, hat man zwar eine Menge erledigt, gleichzeitig aber auch seine komplette Tagesenergie verbraucht oder schlimmstenfalls stressbedingt mit Symptomen zu kämpfen, sei es körperlich oder psychisch. Was hilft? Struktur schaffen durch regelmäßige Pausen.

3. An feste Zeiten halten

Als Lerche liebe ich es früh auf den Beinen zu sein. Für andere Menschen ist das der pure Horror. Dabei haben wir wenig Einfluss auf unseren Schlaf-Wach-Rhythmus, da er zu großen Teilen von unseren Genen bestimmt wird. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren eigenen Rhythmus kennen und uns an feste Schlafenszeiten halten.

Das gleiche gilt auch für unsere Mahlzeiten. Auch die sollten zu festen Zeiten stattfinden, damit sich unsere Verdauung und unser Stoffwechsel darauf einstellen könnten. Bei mir führt zum Beispiel ein Übergehen von physischen Hungergefühlen zu einem erhöhten Stressempfinden (Trigger), das nachlässt, sobald ich eine Kleinigkeit gegessen habe.

Dich an feste Zeiten für Schlafen und Essen zu halten kann daher helfen mehr Struktur in dein Leben mit Trauma zu bringen.

4. Rituale finden

Auf Anhieb klingt das vielleicht esoterisch und lässt an halbbekleidete exotische Tänzer an einem Lagerfeuer auf Bali denken. Dabei gibt es Rituale seit Menschheitsbeginn, denn sie fördern ein Gefühl von Geborgenheit, da Rituale wiederkehrende Handlungen darstellen, die zu Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit beitragen können.

Das kann die besondere Zubereitung eines Sonntagsfrühstücks sein, das regelmäßig zelebriert wird, oder ein Morgen- oder Abendritual, das hilft einen guten Übergang zwischen den Tageszeiten zu schaffen. Wichtig ist, dass das Ritual dir guttut ,und du motiviert bist es wiederholt zu praktizieren.

Rituale bieten eine verlässliche Struktur, die Sicherheit und Halt vermittelt und dadurch für Menschen mit Trauma stabilisierend wirken kann.

Tipp: Wie wäre es mit einem Ritual in der Natur? Zum Beispiel an einem Kraftort, den du bei Bedarf immer wieder aufsuchen und nutzen kannst. Das kann ein besonderer Baum sein, ein großer Stein oder ein Gewässer. Was du dort zu deinem Ritual machst, bleibt dir überlassen. Wichtig ist, dass du das Ritual wiederholt und regelmäßig nutzt.

Mehr über Kraftorte findest du auf der Seite Natur als Ressource und in meinem Beitrag 5 Kraftorte in der Natur zum Auftanken.

5 Tipps zum Umgang mit Struktur und Trauma

Nachfolgend habe ich fünf Tipps für den Umgang mit Struktur und Trauma zusammengestellt, die auf meinen eigenen Erfahrungen beruhen.

1. Selbst entscheiden

Als Kind hatten wir wenig Kontrolle über das, was mit uns passiert. Weglaufen war keine Option. Ebenso wie wichtige Entscheidung zu treffen. Vieles mussten wir akzeptieren oder schlimmstenfalls aushalten, meist ohne ein echtes Mitspracherecht. Insbesondere bei Menschen mit Bindungs- und Entwicklungstrauma kann das auch später im Leben zum wiederholten Auftreten alter Traumagefühle wie Hilflosigkeit und Ohnmacht führen.

Deshalb ist es wichtig dir bewusst zu machen, dass du heute selbst entscheiden kannst. Sei es beim Einkaufen, der Berufswahl oder in Freundschaften. Das erfordert Übung. Und eine Menge Mut. Auf der anderen Seite bedeutet es aber auch, dass du ein Stück weit die Kontrolle über dein Leben zurückerhältst.

Tipp: Bevor du das nächste Mal eine Entscheidung triffst, versuche vorher in dich hineinzuspüren („Bauchgefühl“) und zu erspüren was sich gut und richtig für dich in diesem Moment anfühlt. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch, sondern eine Verbindung mit dir selbst und deinen Bedürfnissen. Gib dir dafür etwas Zeit, denn unser Bauchgefühl arbeitet langsamer als unser Kopf.

2. Routinen schaffen

Wiederholung gibt Sicherheit. Wer morgens weiß, wie sein Tag voraussichtlich aussehen wird, erlebt weniger Stress als jemand der völlig planlos startet. Denn unser Gehirn liebt Vorhersagbarkeit. Und Routinen. Daher ist es wichtig, sich Routinen zu schaffen. Zum Beispiel in Form einer festen Tagesstruktur.

Das kann so aussehen, dass du jeden Tag zur gleichen Zeit aufstehst, frühstückst, duschst, zur Arbeit fährst und abends Feierabend machst. Mit der Zeit wird dir dieser Ablauf zur Gewohnheit, du musst nicht mehr explizit darüber nachdenken und ständig Entscheidungen treffen.

Es gibt natürlich auch noch jede Menge andere Routinen, zum Beispiel jeden Tag Tagebuch schreiben, Meditieren oder Spazierengehen. Probiere einfach aus, was dir guttut und habe den Mut eine Routine auch wieder zu verwerfen. Ich versuche jeden Tag ein wenig Zeit in der Natur zu verbringen, weil ich weiß, dass ich von der Regelmäßigkeit profitiere.

3. Eigene Grenzen achten

Leichter gesagt als getan. Denn für traumatisierte Menschen kann es aus unterschiedlichen Gründen schwierig sein Grenzen wahrzunehmen und zu verteidigen. Zum Beispiel weil dann Beziehungsverlust droht. Oder weil sie es nie gelernt haben. Dennoch ist es wichtig, seine eigenen Grenzen so wie weit möglich zu achten.

Ich habe zum Beispiel eine chronische Schmerzerkrankung, die es mir schwer macht zu planen. An manchen Tagen schaffe ich kaum meinen Alltag. Umso wichtiger ist es in diesen Phasen meine Grenzen zu achten und mir auch Ruhe zu gönnen, da die Schmerzen sonst schlimmer werden.

Fang am besten klein an und übe in Situationen, die überschaubar sind. Das kann ein freundliches „Nein, danke“ beim Angebot von kostenlosen Werbeartikeln sein oder die Entscheidung gegen eine Einladung. Wenn es dir gelingt deine eigenen Grenzen zu achten, fühlt sich das mit etwas Übung richtig gut an, da du für dich und deine Bedürfnisse eintrittst.

4. Selbstwirksamkeit fördern

Nach Albert Bandura bedeutet Selbstwirksamkeit, dass jemand innerlich überzeugt ist, eine schwierige oder herausfordernde Situation aus eigener Kraft bewältigen zu können. Eng verknüpft damit ist auch das Gefühl die Kontrolle über eine Situation zu haben, also selbst bestimmen zu können, was als nächstes passiert. Das Gegenteil also von dem Gefühl was durch überwältigende traumatische Erfahrungen erzeugt wird.

Um so wichtiger ist es Selbstwirksamkeit zu erleben, denn diese Erfahrung kann einen großen Unterschied für den eigenen emotionalen Zustand machen. Indem ich merke, dass ich eine Situation mittels eigener Fähigkeiten bewältigen kann, verflüchtigen sich auch alte Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Mehr über die Wirkung von Selbstwirksamkeit erfährst du in dem Beitrag Warum Selbstwirksamkeit für traumatisierte Menschen wichtig ist. Dort findest du auch Strategien und Tipps zum Umgang mit Selbstwirksamkeit.

5. Im Erwachsenen-Ich bleiben

Eng verknüpft mit der Selbstwirksamkeit ist auch die Fähigkeit im Erwachsenen-Ich zu bleiben. Das setzt voraus, das wir gelernt haben zwischen unserem Kinder-Ich und dem Erwachsenen-Ich zu unterscheiden. Wenn wir im Kinder-Ich sind, befinden wir uns unter Umständen innerlich wieder in den alten Gefühlszuständen.

Indem wir ins uns hineinspüren und uns fragen, ob das gerade alte oder aktuelle Gefühle sind und ob wir diese einem bestimmten Alter zuordnen können, kann es uns gelingen uns ein Stück weit zu distanzieren und wieder mehr ins Hier und Jetzt zu kommen. Dazu gehört auch, dass wir uns bewusst machen, dass wir heute als Erwachsene andere Möglichkeiten zur Bewältigung einer Situation haben.

Dadurch können wir uns auch besser wieder mit unserer Selbstwirksamkeit verbinden und aus der Perspektive des Erwachsenen entscheiden und handeln. So entsteht mehr Abstand zu dem Chaos, das durch das Trauma verursacht wurde, und wir haben als Erwachsene die Chance mehr Struktur ins unser Leben mit Trauma zu bringen.

Durch mehr Struktur zu mehr Sicherheit

Das Gegenteil von Struktur ist Chaos. Verursacht wird es im Fall von traumatischen Erfahrungen wenn unsere Verarbeitungskapazität gesprengt wird. Dann stecken wir innerlich in alten Gefühlen und Bildern fest, die jederzeit getriggert werden können und uns dann wieder in die Vergangenheit zurückversetzen.

Um dem entgegenzuwirken, hilft Struktur. Denn Struktur führt zu Vorhersagbarkeit und damit zu mehr Sicherheit. Und ohne Sicherheit können wir uns auch nicht der Aufarbeitung von Trauma zuwenden, da wir damit beschäftigt sind unseren hohen Stresslevel und die möglicherweise damit verbundenen Symptome zu managen.

Sich mehr Struktur im Leben zu schaffen kann traumatisierten Menschen helfen. Sei es durch bewusst gefasste Pläne, feste Pausen, einen geregelten Tagesrhythmus oder das Zelebrieren von Ritualen.

Außerdem kann es hilfreich sein dir bewusst zu machen, dass du heute selbst entscheiden kannst und dir über Routinen mehr Vorhersehbarkeit schaffen kannst. Ebenso kann es helfen deine eigenen Grenzen zu achten, dich in der Wahrnehmung von Selbstwirksamkeit zu üben und wann immer möglich im Erwachsenen-Ich zu bleiben.

Denn durch mehr Struktur entsteht auch mehr Sicherheit und die ist essentiell.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar