Bindungstrauma und Wut
Kannst du gut mit deiner Wut umgehen? Oder fällt es dir schwer sie überhaupt wahrzunehmen oder zuzulassen? Falls ja, bist du damit nicht allein. Meiner eigenen Erfahrung nach ist Wut eine herausfordernde Emotion, insbesondere wenn wir unter den Folgen eines Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma leiden.
Oft setzen wir Wut mit Aggressionen gleich, obwohl es sich eigentlich um eine körperliche Reaktion mit Aktivierung des Sympathikus handelt, die unseren Kampf-oder-Fluch-Modus aktiviert.
Durch die von unserem Körper bereitgestellte Energie sollen wir in die Lage versetzt werden unsere Grenzen zu verteidigen und unsere Bedürfnisse durchzusetzen. Dafür müssen wir als Kinder aber gelernt haben die Körperempfindungen, die mit Wut verbunden sind, richtig zu deuten und konstruktiv damit umzugehen.
In der Regel konnten Menschen mit einem Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma diese Erfahrung nicht machen. Stattdessen mussten sie ihre Wut abspalten, um die lebenserhaltende Beziehung zu ihrer Bezugsperson nicht zu gefährden.
In diesem Beitrag, der auf einem englischsprachigen Artikel von Power of Positivity basiert, findest du daher sieben Gründe, warum ein Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma zu Wut im Erwachsenalter führen kann.
7 Gründe für Wut bei erwachsenen Menschen mit Bindungstrauma
Du willst wissen wie sich ein Bindungstrauma auf den Umgang mit Wut im Erwachsenenalter auswirkt? Hier findest du sieben Gründe dafür, warum ein Bindungstrauma zu Wut im Erwachsenalter führen kann.
- 1. Wir glauben, dass Wut „funktioniert“ – auch wenn sie es nicht tut
- 2. Wir sind voller Schuldgefühle wegen unseres Traumas
- 3. Wir sehen uns selbst als Opfer
- 4. Wir lernen keine positive Stressbewältigung
- 5. Wir projizieren unsere Wut auf andere
- 6. Wir fühlen uns zu ausgebrannt
- 7. Wir entwickeln eine Überlebensreaktion
1. Wir glauben, dass Wut „funktioniert“ – auch wenn sie es nicht tut
Wenn wir unter einem Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma leiden, ist unsere Wahrnehmung davon, wie wir mit anderen umgehen sollten, stark von unseren eigenen Erfahrungen in den ersten Lebensjahren geprägt.
Weil wir uns die meisten Fähigkeiten zum Überleben erst aneignen mussten, haben wir als Kinder oft notgedrungen das Verhalten unserer direkten Bezugspersonen übernommen, auch wenn es dysfunktional war und uns sogar geschadet hat.
Das Traurige daran ist, dass wir gesehen und am eigenen Leib erfahren haben, wie missbräuchliche, aggressive und wütende Erwachsene ihre Wut an uns oder an anderen Menschen ausgelassen haben. Dadurch haben wir gelernt, dass wütendes Verhalten nicht nur existiert, sondern dass Wut auch funktioniert.
Wo ein Wille, da auch Wut
Durch das wütende Verhalten der Erwachsenen haben wir hautnah miterlebt, wie Wutausbrüche genutzt werden, um mit Wut den eigenen Willen durchzusetzen. Zum Beispiel um einen Standpunkt zu behaupten, einen Konflikt zu lösen oder einfach nur um Kontrolle über andere auszuüben.
Und die Wahrheit ist: Wut funktioniert wunderbar für diese Zwecke. Das Problem ist, dass sie gleichzeitig ungesund und kontraproduktiv sein kann. Sie funktioniert nur deshalb, weil andere Menschen mit der Wut eingeschüchtert, klein gemacht und unter Druck gesetzt werden. Trotzdem haben viele von uns vorgelebt bekommen, dass Wut funktioniert.
Außerdem sind wir unter wütenden Erwachsenen aufgewachsen, wir sind also daran gewöhnt, uns ähnlich zu verhalten. Wir glauben, dass Wut funktioniert, auch wenn sie auf lange Sicht vielleicht schädlich ist. Wir sind davon überzeugt, dass wütendes Verhalten zum gewünschten Ziel führt, auch wenn das Ziel alles andere als positiv ist.
Lese-Tipp: Wie der Wald dir im Umgang mit Wut und anderen Gefühlen helfen kann, erfährst du in meinem Beitrag Waldgefühle: Wie der Wald auf meine Gefühle wirkt, wo ich über meine Erfahrungen berichte.
2. Wir sind voller Schuldgefühle wegen unseres Traumas
Viele Betroffene, die in ihrer Kindheit ein Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma erlebt haben, verinnerlichen die Worte und Handlungen der Menschen, die das Trauma verursacht haben.
Da wir uns als Kinder der Situation nicht entziehen konnten, gleichzeitig aber nach einem Grund für das Erlebte suchten, haben wir uns unter Umständen sogar selbst die Schuld gegeben. Oder wir haben gelernt, uns selbst als Ursache der Wut anderer zu sehen.
Studien zufolge ist das ein häufiges Problem, mit dem Menschen mit Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma zu kämpfen haben.
Kommen dir die folgenden Punkte bekannt vor?
- Du glaubst, dass du wegen deiner persönlichen Fehler oder Markel eine negative Behandlung sogar verdient oder dadurch provoziert hast.
- Du bist der Meinung, dass du als Kind die Pflicht hattest einen Weg zu finden , um die Entstehung des Traumas von vorneherein zu vermeiden.
- Du denkst, dass dein Trauma “zu gering” war, um deine heftigen Gefühle, Reaktionen und Symptome heute zu rechtfertigen.
- Du bist überzeugt, dass du übertrieben hohe Ansprüche an dich selbst stellen musst, um anderen Menschen deinen Wert zu beweisen.
- Du sprichst mit dir selbst so abwertend, wie du es als Kind durch missbräuchliche, aggressive oder wütende Erwachsene erlebt hast.
- Du machst dich selbst mit den Worten fertig, mit denen du schon als Kind beschimpft wurdest.
Die Schuldgefühle, die aus diesen Erfahrungen resultieren, können uns wütend auf uns selbst machen, und die Wut kann so weit gehen, dass wir uns selbst sabotieren, uns selbst verletzen oder uns die Schuld für alles geben, was damals schief gelaufen ist.
Dabei ist die gegen das Selbst gerichtete Wut nur eine von vielen Möglichkeiten, wie sich ein Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma in Form von Wut manifestieren kann.

3. Wir sehen uns selbst als Opfer
Ein Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma kann uns viele Dinge nehmen, auf die wir nie wieder im Leben eine Chance bekommen, zum Beispiel selbst eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen oder uns beruflich selbst zu verwirklichen oder Karriere zu machen.
Oft bleiben Betroffene hinter ihren Möglichkeiten zurück. Mangelnder Selbstwert, fehlende Stabilität oder wiederkehrende psychische Krisen sind nur einige der Gründe. Und das Wissen um diese Zusammenhänge kann Wut auslösen.
Denn plötzlich verstehen wir, dass wir damals als Kind Opfer waren. Und allein diese Erkenntnis kann Wut in uns hervorrufen:
- Wut auf die Menschen, die uns das angetan haben (auch wenn sie es nicht besser wussten und selbst traumatisiert sind)
- Wut auf Menschen, die nicht mit einem Trauma zu kämpfen haben und denen daher nie jemand wichtige Chancen im Leben genommen hat
- Wut auf uns selbst, weil wir nicht schon früher einen Weg gefunden habe die Dinge zu bekommen, die gerne gehabt hätten und für die es jetzt vielleicht zu spät ist
- Wut auf andere von Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma Betroffene, denen es besser oder schlechter geht als uns selbst, oder die sich an einer anderen Stelle ihres Heilungswegs befinden
Raus aus der Opferrolle
All diese Arten von Wut, die sich auf die Opferrolle konzentrieren, können uns schaden und zu ungerechtfertigter Wut in unserem Alltag führen.
Es ist zwar wichtig zu verstehen, dass wir das, was uns passiert ist, nicht verdient haben und dass wir wirklich ein Stück weit Opfer waren, aber es ist auch wichtig, dass wir nicht zulassen, dass unser gesamtes Leben von der Opferrolle bestimmt wird.
Irgendwann kommt nämlich der Punkt, an dem die Wut darüber, zum Opfer geworden zu sein, dazu führt, dass wir uns noch mehr zum Opfer machen und mit der Opferrolle identifizieren.
Dadurch nehmen wir uns die Chance zu realisieren, dass wir längst erwachsen sind und kein Opfer unserer Umstände mehr. Auch wenn es sich manchmal anders anfühlt, haben wir heute die Kontrolle über unser Leben.
Wenn wir trotzdem unsere aktuellen Probleme auf unser Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma schieben und denken, dass wir aufgrund unserer Geschichte keine Wahlmöglichkeiten haben im Leben, dann stecken wir vielleicht noch im Kind-Ich fest, dass sich damals ohnmächtig und hilflos gefühlt hat.
Erst wenn wir anfangen uns nicht mehr als Opfer zu sehen, sondern als aktiv Handelnder (=Erwachsenen-Ich) sind wir auf dem Weg zu einem produktiven Umgang mit Wut.
Der Kern aller Wut ist ein Bedürfnis, das nicht erfüllt wird.
-Marshall Rosenberg
4. Wir lernen keine positive Stressbewältigung
Als Kind sollten wir im Idealfall ein gesundes Umfeld vorfinden, in dem wir lernen, unsere Emotionen zu regulieren und mit Stress umzugehen, und zwar durch Erwachsene, die selbst reguliert sind und uns einen gesunden Umgang mit Gefühlen vorleben.
Ein Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma hat unter Umständen aber dazu geführt, dass wir diese Dinge nie wirklich gelernt haben. Und ein Defizit in diesen Bereichen kann sich auch Jahre später noch in Gefühlsausbrüchen, Stimmungsschwankungen und Problemen mit der Impulskontrolle äußern.
Weniger Stress, weniger Wut
Stressbewältigung ist oft ein entscheidender Faktor bei der Bewältigung von Wut. Bei vielen Menschen mit einem ungesunden Ausmaß oder Ausdruck von Wut entsteht die Wut durch ein Problem mit der Regulation von Stress.
Viele Menschen mit einem Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma leiden unter chronischem Stress, denn sie haben nie gelernt, sich selbst zu beruhigen oder zu entspannen. Sie sind ständig in Hab-Acht-Stellung oder kollabieren nach getaner Arbeit erschöpft auf dem Sofa.
Hinzu kommt, dass alltägliche Stressfaktoren den bereits vorhandenen Stress noch weiter verstärken können. Und das obwohl man ohnehin im Nachteil ist, was Stresslevel und Stressbewältigung angeht.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass mir dann alles zu viel wird, ich extrem gereizt auf Anforderungen von außen reagiere. Nicht selten schlägt dieser Zustand der Überreizung und Überlastung dann um in Wut, gepaart mit Verzweiflung und Erschöpfung.
5. Wir projizieren unsere Wut auf andere
Die auf andere übertragene eigene Wut verletzt Menschen, die uns nahestehen, und ist ein Grund dafür, dass traumatische Erfahrungen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.
Schlimmer noch: Studien belegen, dass unterdrückte Wut sogar die Lebenserwartung verkürzen kann. Mit anderen Worten: Es liegt daher in unserem eigenen Interesse, zu lernen, besser mit unserer Wut umzugehen und sie zu steuern, anstatt sie so lange zu unterdrücken, bis sie uns zum Explodieren bringt.
Gefühle und Emotionen sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Menschseins. Und Wut als Teil dieser Erfahrung ist eine gute Sache. Aber wenn wir ein Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma haben, mussten wir sehr heftige Emotionen abspalten, um unser Überleben zu sichern. Wir konnten nicht wütend auf unsere Bezugspersonen werden, weil wir ohne sie nicht überlebt hätten, im wahrsten Sinne des Wortes.
Falsches Selbst versus wahres Selbst
Wenn wir von unseren Bezugspersonen traumatisiert wurden, haben wir damals mit hoher Wahrscheinlichkeit ein falsches Selbst (=Funktionsmodus) erschaffen, das nach außen hin funktionierte, um den Wünschen und Anforderungen der Umwelt zu genügen. Dafür mussten wir unsere wahren Bedürfnisse und Emotionen “wegpacken”, für sie gab es keinen Platz.
Als Folge haben wir uns teilweise so weit von unseren wahren Bedürfnissen und Emotionen entfernt, dass wir das falsche Selbst heute noch aufrechterhalten und lieber weiter funktionieren als Stück für Stück das falsche Selbst und den Funktionsmodus zu verlassen.
Klar, das kostet jede Menge Mut. Aber solange wir nicht lernen, das falsche Selbst wieder durch unser wahres Selbst zu ersetzen, wird unsere Wut weiter unterdrückt bleiben.
6. Wir fühlen uns zu ausgebrannt
Viele Menschen haben beim Stichwort „Burnout“ das Bild von jemand im Kopf, der sehr traurig, erschöpft und ängstlich-depressiv ist. In Wirklichkeit beruht ein emotionaler Burnout aber aus der Entwicklung von Apathie, d.h. einem Zustand der zunehmenden Teilnahmslosigkeit oder Gleichgültigkeit.
Jemand der ausgebrannt ist, hört auf sich um sich zu kümmern, und die Dinge um ihn herum, die seine Aufmerksamkeit oder sein emotionales Einfühlungsvermögen erfordern, ermüden die Person noch mehr.
Aber wie wird daraus Wut? Das kann passieren, weil
- wir wenig einfühlsame und verletzende Dinge zu Menschen sagen, die selbst mit ihren Probleme zu kämpfen haben, weil wir nichts von ihrem Leid hören oder uns nicht darum kümmern wollen
- wir aggressiv auf emotionale Personen oder das Ausleben von Emotionen reagieren, weil uns das irritiert
- wir uns schnell über Menschen in unserer Umgebung ärgern, weil wir uns emotional nicht mit ihnen auseinandersetzen wollen
- wir hören auf, uns um andere zu kümmern, vor allem um diejenigen, die nicht so sehr leiden wie wir, bis zu dem Punkt, an dem wir den Schmerz anderer Menschen sogar abwerten
- wir jemanden anschnauzen, der etwas von uns verlangt
7. Wir entwickeln eine Überlebensreaktion
Überlebensreaktionen sind bei Menschen, die Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma erlebt haben, weit verbreitet. Um einigermaßen bei Verstand zu bleiben, mussten wir als Kind Methoden finden, um zu überleben, und unser Gehirn tat, was es konnte, um uns zu schützen.
Wut ist eine sehr wertvolle Emotion zum Überleben, weil sie:
- uns die Motivation gibt, weiterzumachen
- uns hilft, angesichts von Ungerechtigkeit stark zu bleiben
- in der Regel weniger schmerzhaft ist als Traurigkeit und Angst
- den Fokus darauf verlagert, etwas durchzustehen, anstatt sich auf aufreibende Gefühle zu konzentrieren
- uns zurückschlagen lässt
- verhindert, dass wir unterwürfig werden
- eine automatische Reaktion ist, auf die man zurückgreift
Viele Überlebensreaktionen waren für unser Überleben als Kind unerlässlich. Heute verhindern sie, dass wir positive Gedanken entwickeln und gaukeln uns vor, dass wir immer noch ständig angegriffen werden. Unser Gehirn arbeitet weiterhin im erlernten Überlebensmodus, so dass wir immer noch bevorzugt mit Wut auf viele Situationen reagieren.
Wut bei Bindungstrauma: Vom Überleben zum Leben
Das Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma, das wir als Kind erlebt haben, haben wir weder verdient noch selbst verschuldet. Auch als Erwachsener müssen wir nicht allein mit den Folgen eines frühen Traumas fertig werden. Mit Hilfe einer Therapie können wir an der Wahrnehmung von Wut und ihren Folgen arbeiten. Wir können lernen, dass uns die Überlebensstrategien von damals heute wenig nutzen.
Zum Beispiel dürfen wir damit aufhören zu glauben, dass Wut „funktioniert„. Wir brauchen auch keine Schuldgefühle wegen unseres Traumas mehr zu haben oder uns selbst nicht mehr als Opfer zu sehen.
Außerdem können wir heute lernen, wie positive Stressbewältigung aussieht. Und wir müssen unsere Wut auch nicht mehr auf andere Menschen projizieren (oder erkennen die Projektion zumindest). Im Idealfall sorgen wir außerdem für uns bevor wir durch zuviel Stress ausgebrannt in alte Überlebensreaktionen zurückfallen.
Wir alle haben es verdient zu heilen. Das funktioniert am besten, wenn wir uns professionelle Hilfe und die Unterstützung bei Menschen holen, die schon ein Stück weiter sind auf ihrem Heilungsweg. Denn in dem Moment, wo wir anfangen die Zusammenhänge zwischen unserem Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma und Wut besser zu verstehen, fangen wir auch an zu unserem wahren Selbst zurückzukehren.
Neugierig auf mehr?
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